: Henry David Thoreau
: Vom Wandern [Was bedeutet das alles?] - Thoreau, Henry David - Erläuterungen; Denkanstöße; Analyse
: Reclam Verlag
: 9783159602646
: Reclams Universal-Bibliothek
: 2
: CHF 4.90
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: Philosophie
: German
: 80
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Alles Gute ist wild und frei!« Thoreaus berühmter Essay gilt in seiner zivilisationskritischen Haltung als eine der Gründungsurkunden des Naturschutzes.

Henry David Thoreau (12. Juli 1817 - 6. Mai 1862) war zeitlebens ein streitbarer Mensch. Finanziell relativ gut abgesichert als Sohn eines Fabrikanten für Bleistifte, studierte er von 1833 bis 1837 an der Harvard University. Später arbeitete er für nur kurze Zeit als festangestellter Lehrer: Er weigerte sich, seine Schüler körperlich zu züchtigen, und verlor daraufhin seine Stelle. 1838 gründete er mit seinem Bruder John eine eigene Privatschule, die aber 1842, nach dem Tod des Bruders, bereits wieder geschlossen wurde. Im Jahr 1841 lernte er den amerikanischen Dichter Ralph Waldo Emerson (1803-1882) kennen, in dessen Haus er auch zeitweilig lebte.

Vom Wandern


Ich will meine Stimme erheben für die Natur, für absolute Freiheit und Wildheit, im Gegensatz zur zivilisatorisch eingehegten Freiheit und Kultur; dabei betrachte ich den Menschen als Bewohner, ja als festen Bestandteil der Natur, nicht als Glied der Gesellschaft. Ich will eine extreme Position vertreten, und dies, mit Verlaub, durchaus energisch; denn Verfechter der Zivilisation gibt es ja genug; der Pfarrer, das Schulkomitee und jeder einzelne von Ihnen werden sich ihrer schon annehmen.

Ich habe in meinem Leben nur ein, zwei Menschen kennengelernt, die sich auf die Kunst des Spazierens verstanden oder, anders ausgedrückt, eine Begabung zum Schlendern besaßen. Spazierengehen heißt, gemächlich zu gehen, eben zu schlendern,to saunter, wie wir im Englischen sagen; eine reizvolle Etymologie* zu diesem Wort vermeint, es leite sich her von»müßigen Gesellen, die im Mittelalter durch die Gegend streiften und unter dem Vorwand, sie wolltenà la Sainte Terre,›ins Heilige Land‹, Almosen erbettelten«; irgendwann hätten dann die Kinder gerufen:»Da kommt einSainte-Terrer« – ein›Heiligländer‹, und daraus wurdeSaunterer. Heute bezeichnetto saunter schlicht ein gemächliches Gehen; die Volkssprache verwendet sogar›pilgern‹ in dieser Bedeutung. Jene aber, deren›Pilgermärsche‹, entgegen ihrer Vorgabe, nicht ins Heilige Land führen, sind wahrhaftig nur müßige Streuner und Stromer; doch jene, die ihre Schritte tatsächlich dorthin lenken, sindSaunterer im guten Sinne, sind echte Pilger, und die meine ich. Manche behaupten freilich, das Wort komme vonsans terre›ohne Land‹,›ohne Heimstatt‹, was ins Positive gewendet hieße, keine eigene Heimstatt zu haben, sondernüberall gleichermaßen daheim zu sein. Dies nämlich ist das Geheimnis des erfolgreichen Wanderns und Pilgerns. Wer immer still zu Hause hockt, kann trotzdem der größte Streuner sein; der Pilger im guten Sinne jedoch vagabundiert ebenso wenig wie ein kurvenreicher, mäandernder Fluss, der ständig und unermüdlich den kürzesten Weg zum Meer sucht. Ich bevorzuge allerdings die erste Herleitung, dieübrigens auch die wahrscheinlichere ist. Denn bei jedem Fußmarsch handelt es sich um eine Art Kreuzzug; irgendein Peter der Einsiedler* ruft uns dann auf, hinauszugehen und ein bestimmtes Heiliges Land von den Ungläubigen zu befreien.

Nun sind wir freilich recht kleinmütige Kreuzfahrer, und auch die Wanderer unternehmen heute keine Reisen, die Beharrlichkeit erfordern und deren Schluss nicht absehbar ist. Unsere Expeditionen sind eher kleine Touren, und abends finden wir uns an jenem vertrauten Herde wieder ein, von dem wir morgens losgezogen waren. Auf solchen Partien verbringen wir die Hälfte der Zeit damit, unsere Schritte zurückzuverfolgen. Vielleicht aber sollten wir selbst den kürzesten Gang in einer besonderen Geisteshaltung vollführen: Stellen wir uns vor, er wäre ein Abenteuer, das kein Ende kennt, bei dem wir damit rechnen müssten, dass wir nie heimkehrten und nur unsere einbalsamierten Herzen als Reliquien in unsere verlassenen Königreiche gelangten.* Wer bereit ist, sich von Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Weib, Kind und Freunden zu trennen und sie nie wiederzusehen, wer seine Schulden bezahlt, sein Testament gemacht und alle Angelegenheiten geregelt hat – der mag wandern.

Um auf meine eigenen Erfahrungen zu sprechen zu kommen: Mein Begleiter und ich – ja, gelegentlich habe ich einen Begleiter – gefallen uns in der Phantasie, wir wären Mitglieder eines neuen oder vielmehr eines recht bejahrten Ordens: freilich nicht Equites oder Chevaliers, nicht Ritter oder Reiter, sondern Fußläufer – eine, denke ich, nochältere und noch ehrbarere Klasse. Der ritterliche, heroische Geist, der einst die Herren zu Pferde beseelte, wohnt jetzt offenbar den Fußläufern inne oder setzt sich allmählich in ihnen fest: Was früher der Irrende Ritter war, ist heute der Irrende Wanderer. Er gehört zu einer Art viertem Stand, außerhalb von Kirche, Staat und Volk.

Wir haben den Eindruck, dass wir hierorts fast die einzigen sind, die diese edle Kunst praktizieren. Seltsam, denn die meisten in meiner Stadt würden eigentlich – sofern man ihren Beteuerungen glauben darf – auch gern hin und wieder wandern wie ich; aber sie können es nicht. Kein Reichtum kann die erforderliche Muße, Freiheit und Unabhängigkeit kaufen, die in diesem Metier das Kapital darstellen. Diese Dinge schenkt allein die Gnade Gottes. Hier bedarf es einer himmlischen Fügung. In die Familie der Wanderer muss man hineingeboren werden:Ambulator nascitur, non fit.* Einige meiner Mitbürger erzählten mir, sie seien doch schon einmal gewandert, vor zehn Jahren, so erinnern sie sich. Dabei hatten sie Glück und verirrten sich für eine halbe Stunde im Forst. Aber seitdem, das wei&