: Leopold Federmair
: Das rote Sofa Geschichten von Schande und Scham
: Otto Müller Verlag
: 9783701362134
: 1
: CHF 12.60
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 120
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In neun autobiographischen Erzählungen und Essays nähert sich Leopold Federmair von verschiedenen Seiten so brisanten Themen wie (Macht)missbrauch und kindlicher Sexualität. Er lotet die Grenzen zwischen erotischem Spiel und sexueller Belästigung aus und geht der Frage nach, ob das Erstarken einstmals emanzipatorischer Bewegungen nicht zu neuen Tabus geführt hat, die unsere Freiheit einschränken. Ferne Erinnerungen, die in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückreichen, verbinden sich mit aktuellen Ereignissen, die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden. Mit ihrer literarischen Sprengkraft versuchen diese Texte, der heute vorherrschenden politischen und moralischen Korrektheit die Stirn zu bieten. Ein weit in die Kulturgeschichte zurückgreifender Essay über drei schwule Außenseiterfiguren - den Maler Caravaggio, den Dichter und Filmregisseur Pier Paolo Pasolini und den Romancier Jean Genet - rundet das Buch ab und stellt die Haltung des Autors in einen größeren historischen Zusammenhang.

Leopold Federmair: geboren 1957 in Oberösterreich. Studium der Germanistik, Publizistik und Geschichte in Salzburg. Schriftsteller, Essayist, Kritiker. Übersetzungen aus dem Französischen, Spanischen und Italienischen, u.a. Werke von Michel Houellebecq, José Emilio Pacheco, Francis Ponge. Lebt in Hiroshima.

Das rote Sofa

Warum nicht ich? Diese Frage stelle ich mir im nachhinein, Jahrzehnte später, jetzt, wo alle von dem reden, worüber jahrzehntelang niemand zu reden wagte, auch nicht die Opfer, die Geschädigten oder die, die im nachhinein einen Grund dafür finden, warum es ihnen im Leben schlecht ergeht. Der Mönch, der sie im Kindesalter mißbraucht hat, ist schuld. Da ist ihnen unverhofft eine Erklärung zugeflogen, die immer in Reichweite war.

Von meinem elften bis zum sechzehnten Lebensjahr bin ich in diese Klosterschule gegangen, habe im Internat gelebt, bin aber nicht mißbraucht worden. Warum eigentlich nicht? Seltsam, daß diese Frage jetzt auftaucht.

Ja, hätte dir das denn gefallen? Auch die Gegenfrage muß ich mir stellen, auf die weiß ich sogar eine Antwort (aus Schaden wird man klug): Nein, das hätte mir nicht gefallen. Der alte Mann, den alle aus Scham, oder weil es die Rechtsprechungsgepflogenheiten so wollen, Pater A. nennen, leitete damals den Knabenchor, und ich hätte in diesem Chor gern mitgesungen. Der Pater, auch als Musiklehrer tätig, nahm mich nicht auf, obwohl ich, wenn ich mir alte Fotos ansehe, doch ein hübscher Junge mit weichen Zügen war. Genau die Art, die nach dem Geschmack der Pädophilen vom Schlage des Paters sind. Die Schüler redeten untereinander über die schwulen Patres: Erfahrungen, Vermutungen, Gerüchte, manch einem wurde sicher unrecht getan. Es gab ein Wort, das auf dem Land gern verwendet wurde: „warm“. Der ist ein Warmer, hörte man, und ein Elf-, Zwölfjähriger, der noch nicht eingeweiht war, fragte sich beunruhigt, was es damit auf sich haben mochte. Anspielungen und Gekicher: „Ein warmer Leberkäse…“ Die Schüler redeten, aber wenn wirklich einer an die Reihe kam, wenn er ins Zimmer des Musiklehrers mußte, um sich dort auf dem roten Sofa „untersuchen“ z