: Joaquim Maria Machado de Assis
: Dom Casmurro Roman
: Manesse
: 9783641091460
: 1
: CHF 4.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 448
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der große Klassiker der brasilianischen Literatur in einer Neuübersetzung
Machado de Assis ist der unumstrittene Leitstern unter den Klassikern Brasiliens, sein literarisches Vermächtnis ein Feuerwerk an Witz und Originalität. Unterhaltsam und mit feiner Ironie erzählt er von einer großen Liebe, von Eifersucht und der Macht des Zweifels.

Wie viele große Liebesgeschichten beginnt auch diese im Verborgenen: Nur heimlich dürfen Bento und Capitu sich treffen, denn der junge Mann soll in den Dienst der Kirche treten. Als es Bento gelingt, dem Priesterseminar zu entfliehen und Capitu zu heiraten, ist das Glück zunächst perfekt. Da fällt Bento plötzlich auf, dass sein Sohn seinem besten Freund Escobar verblüffend ähnlich sieht. Bento zieht seine Schlüsse...

Hat Capitu ihn betrogen - oder hat sie nicht? Diese Frage treibt Bento immer noch um, als er im fortgeschrittenen Alter sein Leben Revue passieren lässt. Und auch wenn er, der sich selbst für ein Muster an Tugendhaftigkeit hält, keinen Zweifel hegt: Der Leser wird bald misstrauisch, scheint 'Dom Casmurro' ? 'Herr Griesgram', wie die Leute ihn inzwischen getauft haben - doch nicht gerade ein verlässlicher Zeuge der Vergangenheit.

Machado de Assis (1839?1908) erzählt die Geschichte einer Ehe vor dem Hintergrund dramatischer Umbrüche. Die Moderne hält Einzug in Brasilien, und mit ihr die Unsicherheit und die Sehnsucht nach dem Altbewährten. '?Dom Casmurro? handelt von Krisen und Veränderung. Es handelt von den Sorgen der Brasilianer am Ende des 19. Jahrhunderts. Und indirekt auch von denen, die sich heute, in Zeiten globaler Schuldenkrisen, einstellen' (Kersten Knipp).

  • Neuübersetzung ausgezeichnet mit dem renommierten Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW 2014


Joaquim Maria Machado de Assis (1839-1908) wurde in Rio de Janeiro geboren. Aus einfachsten Verhältnissen stammend, absolvierte er zunächst eine Druckerlehre, arbeitete dann als Journalist und trat in den Staatsdienst. Sein vielseitiges literarisches Werk umfasst Lyrik und Theaterstücke, über 200 Erzählungen und 9 Romane, darunter 'Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas' (Manesse 2003) und 'Dom Casmurro' (Manesse 2013). Mitbegründer der Brasilianischen Akademie für Sprache und Dichtung, wurde er 1879 auch deren erster Präsident. In der letzten Dekade seines Lebens galt Machado de Assis als intellektueller Doyen und Nationalhelden Brasiliens.

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Eine Sünde

Da wir schon bei diesem Thema sind, will ich die Kranke nicht aufstehen lassen, ehe ich nicht erzählt habe, was mir widerfuhr. Nach fünf Tagen Krankheit wachte meine Mutter eines Morgens so verwirrt auf, dass sie befahl, mich aus dem Seminar holen zu lassen. Onkel Cosme wandte vergebens ein: «Schwester Glória, deine Angst ist völlig unbegründet, das Fieber vergeht wieder…»

«Nein, nein! Lasst ihn holen! Vielleicht muss ich sterben, und meine Seele findet keine Ruhe, wenn Bentinho nicht bei mir ist.»

«Wir werden ihm einen Schrecken einjagen.»

«Dann sagt ihm nichts, aber lasst ihn holen, und zwar sofort. Beeilt euch!»

Sie dachten, sie rede im Fieberwahn, doch da es kein Problem war, mich zu holen, wurde José Dias damit beauftragt. Als er im Seminar ankam, wirkte er so verstört, dass ich erschrak. Er sprach allein mit dem Rektor und erhielt die Erlaubnis, mich nach Hause mitzunehmen. Auf der Straße schritten wir schweigend einher, wobei er an seinem üblichen bedächtigen Gang festhielt – Obersatz, Untersatz, Konklusion –, doch seufzend und hängenden Kopfes. Ich suchte von seinem Gesicht eine schlimme, endgültige Nachricht abzulesen. Er hatte nur von einer Krankheit gesprochen, als wäre es nichts Bedrohliches. Doch die Tatsache, dass man mich rufen ließ, sein Schweigen, sein Seufzen, all das konnte mehr bedeuten. Mein Herz klopfte heftig, meine Beine zitterten, und mehr als einmal drohte ich zu stürzen

Ich war hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren, und der Angst, sie zu hören. Es war das erste Mal, dass ich mich dem Tod so nahe fühlte; er stand förmlich neben mir und sah mich aus seinen tiefen, dunklen Augenhöhlen an. Je weiter ich die Rua dos Barbonos voranschritt, umso mehr erschreckte mich die Vorstellung, zu Hause anzukommen, einzutreten, das Wehklagen zu hören und einen Leichnam vorzufinden… Oh, es ist mir unmöglich, all das niederzuschreiben, was ich in diesen schrecklichen Minuten empfand! Die Straße schien unter meinen Füßen hinwegzueilen, obwohl José Dias superlativisch langsam ging, die Häuser flogen zu beiden Seiten an mir vorbei, und das Horn, das in der Polizeikaserne ertönte, klang in meinen Ohren wie die Posaune des Jüngsten Gerichts.

Wir gelangten an die Praça dos Arcos und bogen in die Rua de Matacavalos ein. Unser Haus zählte nicht zu den ersten, sondern lag noch hinter dem Invalidenheim, ganz in der Nähe des Senats. Drei- oder viermal hatte ich meinen Begleiter ansprechen und fragen wollen, aber nicht gewagt, den Mund aufzumachen. Und nun hatte ich dieses Bedürfnis bereits nicht mehr. Ich lief einfach weiter, mich in das Schlimmste fügend, als wäre es des Schicksals Wille oder eine menschliche Notwendigkeit. Auf einmal flüsterte mir die Hoffnung, die die Angst besiegen wollte, ins Ohr – nicht mit diesen Worten, denn es waren keine Worte, sondern höchstens ein in diese Worte zu fassender Gedanke: «Wenn Mama tot ist, brauchst du nicht mehr ins Seminar.»

Lieber Leser, es war wie ein Blitz. So schnell, wie er das Dunkel erhellte, war er auch wieder erloschen, und die Nacht wurde noch finsterer, weil nun quälende Gewissensbisse hinzukamen. Es war ein zügelloser, egoistischer Einfall gewesen. Meine Kindesliebe hatte durch die Aussicht auf die sichere Freiheit, auf das Verschwinden von Schuld und Schuldner einen Moment lang ausgesetzt. Es war nur ein Augenblick gewesen, weniger als ein Augenblick, ein Hundertstel eines Augenblicks, doch genug, um meine Sorge durch die Reue noch zu verschlimmern.

José Dias seufzte. Einmal sah er mich so mitleidsvoll an, dass es mir schien, als habe er meine Gedanken erraten. Ich wollte ihn bitten, sie niemandem zu sagen, weil ich mich geißeln und ähnliche Buße tun würde. Doch sein Mitleid war so voller Liebe, dass es nicht Mitgefühl wegen meiner Sünde sein konnte. Dann war es also doch der Tod meiner Mutter… Ich verspürte eine solche Angst, einen so großen Kloß im Hals, dass ich nicht mehr an mich halten konnte und in Tränen ausbrach.

«Was ist los, Bentinho?»

«Muss Mama…?»

«Nein, nein! Wie kommst du denn darauf? Ihr Zustand ist äußerst ernst, aber nicht lebensgefährlich, und Gott vermag alles. Trockne deine Tränen, es ist nicht schön, wenn ein Junge in deinem Alter in der Öffentlichkeit weint. Es ist bestimmt nichts, nur ein Fieber… Und Fieber kommt mit Wucht, vergeht aber genauso schnell wieder