: Stephen Grosz
: Die Frau, die nicht lieben wollte Und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104028859
: 1
: CHF 10.00
:
: Angewandte Psychologie
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der weltbekannte Psychoanalytiker Stephen Grosz offenbart in seinen literarisch verdichteten Fallgeschichten »Die Frau, die nicht lieben wollte. Und andere wahre Geschichten über das Unbewusste« die unbewussten Beweggründe unseres alltäglichen Handelns. Wie Iris Berben sagt, »da geht es um Liebe und Lügen, Veränderungen und Anfänge, also das ganze Spektrum des Lebens. Das ist anrührend und merkwürdig zugleich.« Grosz hat über 50 000 Stunden Therapiegespräche geführt und nun die Essenz gezogen: Er erzählt von Angst, Liebe, Leidenschaft und Trauer und wie wir Menschen uns verlieren und verfehlen können. Doch die Kraft der Worte helfen uns auch, uns wiederzufinden. Jedes Mal wenn Amanda nach Hause kommt, glaubt sie, dass ihre Wohnung in die Luft fliegt. Graham langweilt wirklich jeden in kürzester Zeit. Daniel verliert seinen Geldbeutel und will es nicht wahrhaben: In den Merkwürdigkeiten unseres Verhaltens zeigt sich das Unbewusste. Dort liegen unsere Probleme verborgen. »Diese brillante Mischung aus beharrlicher Detektivarbeit, bemerkenswertem Mitgefühl und reinster, unendlicher Neugier für die Eigenheiten des menschlichen Herzens macht diese Geschichten so vollkommen fesselnd.« Sunday Times

Stephen Grosz, geboren 1952, arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Psychoanalytiker in London und lehrt am dortigen University College. Er studierte an der University of California, Berkeley, und an der Oxford University. Er schreibt regelmäßig für die »Financial Times« und »Granta«. Sein hochgelobtes, erstes Buch »Die Frau, die nicht lieben wollte« wurde in 31 Sprachen übersetzt und war ein internationaler Bestsellererfolg. Stephen Grosz lebt in London.

Anfänge


Wie wir von einer Geschichte besessen sein können, die nicht erzählt werden kann


Ich möchte Ihnen eine Geschichte von einem Patienten erzählen, der mich schockiert hat.

Zu Beginn meiner Tätigkeit als Psychoanalytiker mietete ich mir in Hampstead ein kleines Praxiszimmer an einer breiten, baumbestandenen Straße namens Fitzjohns Avenue. Einige bekannte psychoanalytische Kliniken liegen im näheren Umkreis, und bis zum Freud-Museum sind es nur wenige Minuten Fußweg. Am Südende der Fitzjohns Avenue steht eine große Bronzestatue von Freud.

Meine Praxis war ein ruhiger, spärlich eingerichteter Raum mit einem Tisch gerade groß genug, sich Notizen zu machen und die monatlichen Rechnungen zu schreiben. Bücherregale und Akten fehlten – das Zimmer war weder zum Lesen noch zum Studieren gedacht. Und wie in den meisten Praxen war die Couch keine Couch, sondern ein Einzelbett mit harter, dunkel bezogener Matratze. Am Kopfende lag ein Daunenkissen und darauf ein weißes Leintuch, das nach jedem Patienten gewechselt wurde. Die Psychoanalytikerin, die mir das Zimmer vermietete, hatte vor vielen Jahren ein Werk afrikanischer Stammeskunst an die Wand gehängt. Sie benutzte das Zimmer morgens, ich am Nachmittag, deshalb war es so unpersönlich, fast asketisch eingerichtet.

Beim ambulanten Dienst der forensischen Psychiatrie an der Portman Clinic hatte ich einen Teilzeitjob. Patienten, die ans Portman überwiesen werden, haben meist das Gesetz gebrochen und gewalttätige oder sexuelle Verbrechen begangen. Meine Patienten gehörten zu allen Altersgruppen, und ich schrieb so manche Gerichtsvorlage. Zeitgleich baute ich meine private Praxis auf. Der Plan lautete, die Vormittage der klinischen Arbeit zu widmen, während ich hoffte, am Nachmittag meine eigenen Patienten sehen zu können, die nicht ganz so extreme und drängende Probleme hatten.

Wie sich dann herausstellte, erwiesen sich auch meine ersten privaten Patienten als eine ziemliche Herausforderung. Im Rückblick kann ich viele Gründe dafür nennen, warum diese ersten Fälle so schwierig waren. Teils lag dies sicher an meiner eigenen Unerfahrenheit. Ich glaube, es braucht Zeit – jedenfalls habe ich Zeit gebraucht –, um zu erkennen, wie verschieden die Menschen sind. Und vermutlich hat es auch nicht geholfen, dass einige Patienten von etablierten Psychiatern und Psychoanalytikern überwiesen wurden, die mir helfen wollten, Fuß zu fassen. Oft überweisen Ärzte nämlich jene Patienten an jüngere Analysten, die sie selbst nicht behandeln oder anderswo unterbringen können. Und so plagte ich mich ab mit:

Miss A., einer zwanzigjährigen Studentin. Obwohl der überweisende Analytiker bei Miss A. diagnostiziert hatte, sie leide »unter unkontrollierbaren Weinkrämpfen, Depressionen und anhaltenden Gefühlen der Unzulänglichkeit«, trat sie mir gegenüber als eine fröhliche, junge Frau auf, die felsenfest davon überzeugt war, keine Behandlung zu brauchen. Mit der Zeit erfuhr ich jedoch, dass sie unter Bulimie litt und sich zwanghaft regelmäßig schnitt. Da sie nur sporadisch zu ihren Sitzungen gekommen war, hatten bereits zwei Therapeuten die Behandlung aufgegeben.

Professor B., einem vierzigjährigen Wissenschaftler, verheiratet, zwei Kinder. Ihm war kürzlich vorgeworfen worden, das Werk eines Rivalen plagiiert zu haben. Der Vizekanzler der Universität hatte die Angelegenheit an den Disziplinarausschuss weitergeleitet. Sollte sich der Vorwurf als berechtigt erweisen – und Professor B. gestand, dass dies durchaus der Fall sein könne –, sollte er vermutlich die Gelegenheit erhalten, ohne Aufsehen den Rücktritt einreichen zu dürfen. Sein Arzt hatte ihm Antidepressiva verschrieben und mich gebeten, mit ihm eine Analyse zu beginnen. Professor B.s Zustand wechselte abrupt zwischen hektischen Triumphgefühlen – so mokierte er sich etwa über seine Kollegen im Disziplinarausschuss – und völliger Niedergeschlagenheit.

Mrs C.; ihr gehörte ein kleines Restaurant, das sie zusammen mit ihrem Mann führte; zudem war sie Mutter von drei Kindern. Sie suchte Hilfe, da sie sich ständig Sorgen machte und unter Panikattacken litt. Bei unserem ersten Treffen erzählte sie, dass es ihr schwerf