Weise wären wir doch alle gerne
Einleitung
Wer wäre das nicht gerne, weise? Das klingt nach Wissen und Erfahrung, nach Ruhe und Gelassenheit und vor allem: Es hebt einen ein wenigüber die anderen. Wir wären nicht unbedingt gerne»alt und weise«, aber weise schon. Was aber ist weise? Wie zeigt sich Weisheit? Wie oft in unserem Leben haben wir weise reagiert, gehandelt? Und wie oft das pure Gegenteil gemacht? Ist es dann dumm? Wer sich dem Thema Weisheit nähert entdeckt meterweise Literatur, im Internet, wo man modernerweise als Erstes zu recherchieren beginnt. Aber als altmodischer Mensch zieht es einen auch in Buchhandlungen.»Weisheit?«– Die Buchhändler sind erst mal irritiert. Der mir dann schon vertraute Griff an die Stirn passt gut in Robert Lembkes»Heiteres Beruferaten«. Fürs Erste entdecke ich: Weisheit ist wohl in der Literatur eher männlich besetzt. Weise Frauen leben anscheinend nur im Mittelalter, und Weisheit ist vor allem immer eines: alt. Nie würden irgendwo Babys als weise bezeichnet werden. Ganz selten junge Menschen. Und wenn, dann wird deren Weisheit immer in Bezug auf ihr Handeln so bezeichnet.
Und dann gibt es weise Sprüche, die, aufgelistet, die Literaturverzeichnisse zum Thema»Weisheit« weitübertreffen. Das beginnt mit:»Viele klettern so schnell, dass sie gar nicht merken, dass sie auf den falschen Berg gestiegen sind« (buddhistische Weisheit). Oder:»Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht die Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten und Aufgaben zu vergeben, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem endlosen Meer« (Antoine de Saint-Exupéry). Jeder hat so seine eigenen»Weisheiten« parat, das Gedicht mit den Stufen (»… und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne«) passt an so vielen Stellen im Leben, Aristoteles wird auch gern genommen in den Listen der Weisheitssprüche:»Der Anfang aller Weisheit ist die Verwunderung.«
So wünsche ich mir, dass Sie sich, geneigte Leserin, geneigter Leser, wundern. Uber Geschichten, die von weisen Frauen und Männern erzählen. Die sich ineinander verweben zu einem anregenden, bunten und wilden Stück Stoff aus Menschengeschichten.
Ich werde Ihnen nicht die unzähligen Definitionen und Konzepte zur Weisheit liefern, die sich zwischen Wissen und Intuition, zwischen Verstand und Gefühl, Reife und Kindlichkeit, aber auch Klugheit und Torheit entwickeln. Als Gegenstand zwischen Philosophie und Theologie, in allen Religionen ebenso wie in der Ethnologie, der Soziologie und Psychologie. Man wird fündig in der Märchen- und Mythenforschung– da begegnet einem die Weisheit vor allem als Archetypus der»weisen alten Frau« und des»weisen alten Mannes«. Weisheit versteckt sichüberall zwischen Kunst, Literatur und Musik. Nein– ich bleibe ganz konsequent an den Menschengeschichten. Da ich zutiefstüberzeugt bin, dass jeder Einzelne einzig ist, dass es keine Dubletten gibt im großen Ganzen der Menschheitsgeschichte. So wird jeder einzigartig für sich weise sein– oder dumm, einfältig, töricht, ein Narr oder Idiot.
Das Wort»weise« wird bereits im achten Jahrhundert verwendet.Wîsa, wîs sagten die Menschen im Althochdeutschen wahrscheinlich. Die Sprachforscher sindüberzeugt, dass es mit der Bedeutung von»kundig im Hinblick auf eine Sache«, mit klug und erfahren zu tun haben muss. Es gibt wohl auch Beziehungen zum lateinischenvidere,»sehen«, und dem griechischenoida,»wissen«. Dazu erschließt sich jedem, der mit Sprache umgeht und sie bewusst nutzt, dass das Wort»unterweisen« abgeleitet wurde von»weise« in der Bedeutung von»zeigen, führen, belehren«. Wenn wir in den Texten und Gedichten der althochdeutschen Sprache das Wort»Wîsheit« finden, dann wird damit der Zustand des Weiseseins bezeichnet. Erstaunlich aber auch, dass das Wort»Witz« wohlähnliche Wurzeln wie die Weisheit hat: Witz in der Bedeutung von»Klugheit, Schläue, mit Witz und Tücke«, ist zuweilen in alten Texte zu lesen.
Die Religionen auf unserer Welt scheinen ohne Weisheit wohl nie entstanden zu sein. In der christlichen Bibel wird die Weisheit als Geschenk Gottes dargestellt. So erhielt der Weise Salomo seine sprichwörtliche Weisheit als Antwort auf ein Gebet. An anderen Stellen erleben die beschriebenen Menschen das Geschenk der Weisheit als Summe persönlicher Erfahrungen. Also doch: Menschengeschichten.
Der Buddhismus bezeichnet Weisheit mit dem Begriff»Prajna«, was die ganz große, umfassende Weisheit umschließt, die alle Dinge und Phänomene im Universum durchdringt. Untrennbar verbunden mit»Sunyata« als der Erkenntnis, dass alle erscheinenden Phänomene leer und von einem eigenständigen, ihnen innewohnenden Sein sind. Daraus ergibt sich konsequenterweise der Weg zum Ziel, der Erlangung der Erleuchtung.
Im Hinduismus heißen Weisheit und Wissen in einem einzigen Wort»Vidya«. Zwei Begriffe in einem Wort, weil es auch– wie im Yoga– darum geht, den Dualismus aufzulösen, zunächst die Gedanken zu stoppen, im Hier und Heute zu sein, zu leben.
Auch im Konfuzianismus und im Daoismus hat die Weisheit wie in der chinesischen Philosophie einen großen Stellenwert. Dabei ist dort Weisheit immer auch verbunden mit