: Ottilie Arndt, Lydia Ostermeier
: Des Teufels Mühle
: hey! publishing
: 9783942822596
: 1
: CHF 4,40
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: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 264
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In einem abgelegenen Nebental im Spessart geschieht ein Mord. Die Idylle rund um die Teufelsmühle ist zerstört. Wer ist die Tote? Und warum musste sie gerade in der Walpurgisnacht sterben? Lastet also doch ein Fluch auf der Teufelsmühle? Hauptkommissar Bernd Rieker steht mit seiner jungen Mannschaft vor einem Rätsel. Da erkennt der alte Störzlein, Riekers ehemaliger Chef, Spuren, die weit in die Vergangenheit führen. Spuren, denen er einst selbst nachging. Und wie damals stößt er auch jetzt auf eine Mauer des Schweigens.

Ottilie Arndt studierte Pädagogik und Kunstgeschichte, war als Lehrerin tätig, arbeitete daneben in der Redaktion einer Kinderzeitschrift und veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Südamerika promovierte sie in Erziehungswissenschaften und Soziologie und arbeitete in der internationalen Bildungsforschung. Unter dem Autorennamen"Lena Bloom" schrieb sie drei Nürnberg-Krimis. Lydia Ostermeier studierte Pädagogik und Kunstgeschichte und arbeitete danach als Lehrerin und zusätzlich als Tutorin an der Ludwig-Maximilians-Universitä in München. Als Schulleiterin im Raum München wurde sie zudem von der Regierung von Oberbayern mit dem Kommunikationstraining für Lehrkräfte beauftragt. Sie arbeitete an einer Reihe von Schulbüchern mit, verfasste Fachbeiträge und entwarf Kurzgeschichten.

Mittwoch– 30. April, Walpurgisnacht

EINS


Hurenkind. Seit sie, vom Niedersteinbacher Bahnhof kommend, in den düsteren Spessartwaldweg eingebogen war, summte dieses Wort in ihren Ohren. Hurenkind. Wie sie es hasste! Und wie sie alle die hasste, die es sich hinter ihrem Rücken zugeflüstert hatten. So manchen mitleidigen Blick hatte sie ertragen müssen– das machte das ganze Gerede noch schlimmer. Warum Mitleid? Es war ihr doch gut gegangen, ihr, dem Hurenkind. Jeder Schritt, den sie auf den Waldweg setzte, hämmerte die Erinnerung schmerzlich an die Oberfläche ihrer Gedanken.

Im August 1944 war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Sie war fünf Jahre alt, und ihre Mutter ging in Frankfurt am Main als Sekretärin bei Degussa einem durch und durch bürgerlichen Beruf nach. Doch dann hatte man den Vater an die Ostfront geschickt. Sie sollte ihn nicht wiedersehen. Und am 25. September 1944 kroch sie mit ihrer Mutter gegen Mittag aus dem Luftschutzbunker. Das Haus, in dem sie gewohnt hatten, war nur noch ein rauchender Trümmerberg. Noch am gleichen Tag verließen sie Frankfurt mit den wenigen Habseligkeiten, die ihnen im Schutz des Bunkers geblieben waren. Sie hatten nicht schwer daran zu tragen.

Die Zielstrebigkeit, mit der ihre Mutter sie in den Kahlgrund brachte, ließ sie damals denken, ihre Mutter kenne hier jemanden, bei dem sie unterkriechen konnten. Doch das stimmte nicht. Ihre Mutter nahm nur jede sich bietende Fahrgelegenheit wahr, die sie weg von der zerbombten Stadt brachte. Am besten erinnerte sie sich noch an das letzte Stück, das sie mit der Kahlgrundbahn zurücklegten. Alle Waggons warenüberfüllt, selbst auf den Trittbrettern drängten sich Menschentrauben. Manche sprangen zwischendurch ab und liefen ein Stück neben dem Zug her, der so langsam fuhr, dass man mit ihm mühelos Schritt halten konnte. Sie hätte am liebsten noch Stunden auf der Plattform des Waggons verbracht und die herbstliche Landschaft betrachtet, die vor ihren Augen vorüberzog. Nach dem ohrenbetäubenden Sirenengeheul des Luftschutzalarms und den rauchenden Trümmern Frankfurts fühlte sie sich wie im Himmel. Doch ihre Mutter konnte wohl das Gedränge in der Eisenbahn nicht länger ertragen.

Sie stiegen in Niedersteinbach aus dem Zug und fanden am Ende des Tages in einem Bauernhof am Ortsrand Unterschlupf. Nur Frauen lebten auf dem Hof. Alte und junge Frauen und zwei Kinder, zwei Mädchen. Gisela war fünf und Katharina zwei Jahre alt. Die Ehemänner, Söhne und Brüder der Frauen waren noch im Krieg oder schon gefallen.

Ihre Mutter wollte sich nicht unterkriegen lassen. Getrieben von einemübermächtigen Lebenswillen, stürzte sie sich auf die ungewohnte Arbeit in der Landwirtschaft, konnte bald Kühe melken und den Stall ausmisten. Dafür durften sie am Hof wohnen bleiben. Es war eine schöne Zeit für sie, auch wenn sie noch Monate nach der Flucht aus Frankfurt das Donnern des Bombenhagels im Ohr hatte und selbst beim geringsten Geräusch angstvoll zusammenzuckte. Doch zwei Jahre später, als die Männer nach und nach zurückkehrten, sollten sich die unbeschwerten Tage dem Ende zuneigen.

Sie spielte gerade mit Gisela ein kompliziertes Kästchenhüpfspiel, als ein bis auf die Knochen ausgemergelter Mann auf den Hof schlurfte. Mit seinem einen Arm– der andere Jackenärmel baumelte leer herunter– griff er nach Gisela und sagte ihr, er sei ihr Papa. Dabei lächelte er. Das sah furchterregend aus, weil ihm ein Teil des Kinns fehlte. Gisela lief schreiend davon. Erst spät in der Nacht fand man sie in einem Kuhstall am anderen Ende des Dorfes. Mit der grausigen Entstellung ihres Vaters konnte sich Gisela zeitlebens nicht abfinden.

Das kleine Bauernhaus mit dem braunen Fachwerk wurde bald zu eng für alle. So sagten es zumindest die Frauen, aber mit ein wenig gutem Willen hätte man den beiden Flüchtlingen weiterhin ein Stübchenüberlassen können. Der Grund, warum man sie immer weniger gern am Hof behalten wollte, war wohl eher die auffallende Schönheit ihrer Mutter. Obwohl sie ihr blondes Haar im Nacken zu einem unscheinbaren Zopf zusammenfasste und ständig abgewetzte Kittelschürzen trug, zog sie die Blicke der Männer auf sich. Und 1946 waren Männer eine Rarität, vor allem solche mit gesunden Gliedmaßen.

Glücklicherweise bekam ihre Mutter von dem Besitzer des Jagdschlösschens am Waldrand von Niedersteinbach die Erlaubnis, in dieses Schlösschen einzuziehen. Die Aussicht, in einem Schlösschen zu wohnen, weckte in dem Mädchen von mittlerweile sieben Jahren, das sie damals war, geradezu märchenhafte Vorstellungen, die auch dann noch standhielten, als sie das ziemlich abgewohnte Gebäude in Augenschein nahmen.

Ein paar Tage später, sie hatten sich gerade notdürftig eingerichtet, stand Regina, Mutters Freundin aus Frankfurt, vor der Tür. Die Ernährungslage war in der Stadt immer noch so bedrückend, dass auch sie aufs Land geflohen war. Sie quartierte sich im Schlösschen mit ein, und die beiden Frauen halfen auf den Bauernhöfen der Umgebung beim Einbringen der Ernte. Im Winter war damit jedoch Schluss. Man brauchte ihre Hilfe nicht mehr. Regina, die auf kein Kind aufpassen musste, fand in einer Gastwirtschaft in Mömbris stundenweise Arbeit als Bedienung. Doch die