1998
Als ich Alain anrufe, habe ich keinen guten Eindruck. Dabei hatte doch er mir eine Nachricht hinterlassen. Vor einigen Stunden, jetzt aber ist seine Stimme verändert. Er kann kaum artikulieren. Er schweigt entweder oder brabbelt kraftlos. Er muss völlig besoffen sein bei sich zu Hause. Ich warte, bis er auflegt. Wenn er sich in diesem Zustand befindet, kann das einige Minuten dauern. Eine beträchtliche Zeit lang höre ich den Hörer auf dem Sockel schleifen.
Vom letzten Mal habe ich noch Geld. Auf dem Weg besorge ich ihm Renutryl, Marlboros und Badoit. Er wird es brauchen, sollte der Anfall vorüber sein. Wenn nicht, wird er mich wieder losschicken, Alkohol zu kaufen.
Rue Saint-Martin, ich klingle und öffne. Ich besitze die Schlüssel ohnehin. Ich gehe durchs Zimmer. Ums Bett herum liegen noch Blechschüsseln. Der Fernseher läuft im Salon. Alain sitzt auf der Couch, bewegungslos, den Arm auf eine ausgebrochene Lehne gelegt. Er schweigt und blickt vor sich hin. Er hat die Pose eines mondänen Portraits eingenommen, allerdings mit durchwühltem Haar, mit Bartstoppeln und halb geöffnetem Bademantel. Sein Fleisch ist weiß und aufgedunsen, wie das eines Ersoffenen. Der kleine Baptiste ist noch immer da, ans andere Ende der Couch gedrückt, soweit wie möglich von Alain entfernt. Er hat seine Jacke anbehalten. In seinen Händen hält er einen Drachen.
Ich stelle die Einkäufe beim Couchtisch ab. Ich frage, was sie seit Baptistes Ankunft gemacht haben. Alain zeigt auf eine Fototasche, als hätte er nicht die Kraft, nach ihr zu greifen. Ich schaue nach. Sie sind zum Eiffelturm gegangen. Alain hat ihm den Drachen geschenkt. Sie haben ihn im Park von Champ de Mars ausprobiert. Sie sind ins Kino gegangen und haben einen unverständlichen Film gesehen: «Irgendwann habe ich geglaubt, wir hätten den Saal gewechselt», sagt Alain. Sie sind durch Les Halles gelaufen, haben Filme und Videospiele gekauft. Baptiste ist seit einigen Tagen hier. Seine Mutter hat ihn die Ferien über nach Paris geschickt. Sein Stiefvater hat ihn nicht gerne an der Backe. Es ist ein Kind, so sagt man, das bei ihm nicht sehr glücklich ist. Er hatte sich darauf gefreut, zu kommen.
Alain streift eine Jeans und ein Hemd über. Er lässt den Gürtel offen. Wir gehen runter Mittag essen, ins Chant des Voyelles. Wenigstens liegt es gleich unten, im Gebäude gegenüber. Alain mag in Paris keine Sonne, wir setzen uns nach hinten, weit weg von der Terrasse. Ich frage Baptiste, worauf er Lust hätte. Alain hält den Kopf Richtung Wand, mit verdrehtem Blick, als würde man ihm den Nacken verrenken. Es wird serviert, er isst gerade mal eine Fritte. Er kann nicht mehr, er muss wieder hoch. Er zieht Scheine aus seiner Tasche und lässt mir die Hälfte da. Ich sage zu ihm, dass ich mit Baptiste spazieren gehen werde. Wir sehen ihn schwankend rüber zu seinem Haus gehen.
Baptiste isst langsam seinen Nachtisch. Wenn er nach Hause kommt, wird seine Mutter ihn fragen, ob es schön gewesen sei. Sie wird ihn vielleicht sogar dazu auffordern anzurufen und sich zu bedanken. Sie zieht ihn billig an, er hat schlecht geschnittenes Haar. Er wird alles ändern müssen als Teenager. Es gibt diese traurigen Kinder, die komisch werden oder zumindest gemein, denen es gelingt, ein wenig auf Abstand zu gehen.
Ich führe ihn ins Beaubou