Kapitel 1
God morgen, børn! I dag skal vi lære en dejlig dansk vise, guten Morgen, Kinder! Heute wollen wir ein schönes dänisches Lied lernen. So oder so ähnlich hatte Gerda gewiss den von den Preußen verbotenen Schulunterricht in dänischer Sprache begonnen, an dem Tag vor acht Wochen, an dessen Abend sie spurlos verschwand. Sönke Hansen, Wasserbauinspektor in Husum, starrte auf die Sonne, die soeben hinter dem Steinwall, der seinen Garten umschloss, aufging, bis ihm die Augen schmerzten.
Gerda!
Manchmal wollte er nicht wahrhaben, dass sie verschwunden war. Es war so schwer zu begreifen. Sie war ein so anständiger Mensch, aufrecht bis zur Selbstaufgabe, völlig furchtlos, und hatte der preußischen Obrigkeit stets die Stirn gezeigt, wo es notwendig war. Das hatte sie in ihrem Elternhaus bereits mit der Muttermilch eingesogen.
Und deshalb war sie verschwunden. Sie musste Anlass zur Befürchtung gehabt haben, an die preußische Obrigkeit verraten worden zu sein und als Kind eines missliebigen nordschleswiger Optanten für staatenlos erklärt zu werden. Als Staatenlose ohne Pass aber wäre ihr verboten, weiter als Lehrerin zu arbeiten; eine Aussicht, die für Gerda unerträglich wäre, das wusste Sönke Hansen.
Nicht begreifen aber konnte er, dass Gerda ihn im Ungewissen gelassen hatte. Er liebte sie und sie ihn, und im Herbst wollten sie heiraten.Sorge dich nicht, ich … An der Stelle war Gerdas einzige Nachricht für ihn auf einem Fetzen Papier abgerissen, als ob sie in größter Eile gewesen wäre.
Hansen nahm einen Schluck Kaffee und blickte aus dem Fenster. Inzwischen war die Sonne höher gestiegen und tauchte auf dem Steinwall eine einzelne Heckenrosenknospe, die ungewöhnlich früh im Jahr aufblühen wollte, in ein orangefarbenes Licht.
Vielleicht hatte Gerda ihn auch in ihre Pläne nicht eingeweiht, um ihn zu schützen, denn als Mitarbeiter der Wasserbauinspektion stand er letzten Endes im Dienst der Herren von Berlin.
Zuzutrauen war ihr das, dachte Hansen mit Stolz. Vor allem das. Die Karriere eines Friesen im Staatsdienst konnte schnell beendet sein, wenn er mit illegalen Aktivitäten der Dänen in Verbindung gebracht wurde.
Er verlor sich, wie so oft, in Erinnerungen.
»Herr Bauinspektor«, rief im Schlafzimmer seine Zugehfrau derart entsetzt, dass Hansen aus seinen Gedanken hochfuhr und Kaffee über die blütenweiße Tischdecke vergoss, »haben Sie denn gar nicht bemerkt, dass das Bild von Fräulein Gerda nicht an seinem Platz steht? Ich habe es hinter dem Nachttisch gefunden, stellen Sie sich das doch nur vor! Mit Ihrem Nachtschlaf muss es nicht gut bestellt sein, wenn Sie so um sich schlagen!«
»Nein. Ja«, gab Hansen wortkarg zu und verschwieg ihr, dass er das Porträt behutsam dort abgestellt hatte. Manchmal ertrug er Gerdas Blick einfach nicht. Das untätige Warten auf Nachricht fand er unerträglich, und oft machte er sich Vorwürfe, dass er selbst nicht mehr tun konnte.
Petrine Godbersen erschien in der Tür, eine ältere Frau mit mütterlichem Gesichtsausdruck, den sie sich nicht einzusetzen scheute, wenn sie ihn für angebracht hielt, die Hände über der Schürze gefaltet.
»Nun müssen Sie aber wirklich los, Herr Hansen«, mahnte sie mit mildem Vorwurf. »Sie vertrödeln sich. Die Deiche werden brechen, und Ihre Vorgesetzten werden mit Ihnen schimpfen müssen.«
Hansen musste lächeln. Er erhob sich zur vollen Länge seiner fast einsneunzig, zog automatisch den Kopf an genau der r