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Die Luft war eisig und schneidend, und der auflandige Wind trug die sprühende Gischt als feinen Nebel bis weit auf die Promenade hinauf. Chief Inspector Dorothy Marley vermochte das Salz auf ihren Lippen zu schmecken, als sie atemlos die Stufen auf der Ostseite des hell erleuchteten Palace Piers zum Strand hinuntereilte und die wilden Böen ihren offenen Mantel aufblähten. Weiter unten brachen sich die meterhohen Wellen brüllend an den stählernen Stützpfeilern des Piers und rollten angriffslustig gegen die Steinbarrieren, ehe sie trägeüber den grobkörnigen Sand ins Meer zurückglitten. Als sie auf die Gruppe von geschäftig herumhuschenden Menschen zuschritt, die batteriebetriebene Lampen aufstellten und das ihr so vertraute gelbe Absperrband ausrollten, begann es zu nieseln. Es roch nach Schnee. Hatten die Leute vom Wetterdienst nicht einen milden, beinahe mediterranen Herbstabend versprochen, 15 Grad Celsius und trocken? Es war weiß Gott nicht das erste Mal, dass sie sich irrten.
Der Mord war der Sussex Constabulary vor weniger als 40 Minuten gemeldet worden. Ihr Department war schnell, das wusste sie; trotzdemüberraschte sie die Gegenwart all der Beamten. Insgeheim rügte sie sich für ihre Verspätung. Sie hatte in der Wanne gelegen, Händel gehört und nach der Auseinandersetzung mit ihrer Kollegin Angela an alles andere als an ihren Job gedacht, als der Anruf sie erreichte.
»'n Abend, Chief«, hörte sie eine Stimme neben sich. Es war Ralph Cloud, ihr Sergeant und Schatten. Ralphie war ihr mächtig ans Herz gewachsen; sie fand ihn irgendwie niedlich in seiner tollpatschigen, jungenhaften Art. Dorothy nannte ihn manchmal Clouseau…
»Hi, Schatz«, sagte sie. Sie strich ihm im Vorbeigehen beiläufigübers Kinn.
Dorothy sah, dass Dr. Miliner, der Polizeiarzt, neben dem weißen, leblosen Bündel, dem all der Trubel galt, im feuchten Sand kniete. Er war ein großer, gertenschlanker Mann mit kurz geschorenen grauen Haaren, der die sechzig bereitsüberschritten hatte. Sie trat von hinten an ihn heran, berührte ihn leicht an der Schulter.»Hallo, Doktor. Die Kollegen von der Spurensicherung scheinen sich ja mächtig ins Zeug gelegt zu haben.« Sie ließ sich neben ihn sinken.»Was haben wir?«
»Weibliche Leiche«, sagte Miliner.»Zirka zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt.«
»Erdrosselt, wie die anderen beiden?«
»Erstickt. Keine Würgemale in diesem Fall.« Miliner deutete auf zwei leicht unterblutete Druckstellen im Gesicht der Toten. Er erhob sich.»Der Tod trat durch gewaltsames Verschließen von Mund und Nase ein; vor allerhöchstem ein bis zwei Stunden, würde ich sagen.«
»Starb sie hier?« Dorothy ließ ihre Blickeüber den nackten Leichnam wandern. Lediglich die Füße steckten in Pumps. Die Brustwarzen der Leiche waren versteift, hellblondes Schamhaar kräuselte sich im Wind zwischen den gespreizten Beinen der Toten.
»Ihr Sergeant fand Schleifspuren.« Miliner entledigte sich umständlich seiner Gummihandschuhe.»So, wie es aussieht, wurde sie in eineröffentlichen Toilette getötet– keine fünfzig Meter von hier. Wie in den beiden vorherigen Fällen fand kurz vor oder kurz nach Eintritt des Todes Geschlechtsverkehr statt.«
»Spermaspuren, Doktor?«
»Keine. Nichts. Gar nichts.« Miliner warf die Handschuhe in seine schwarze, klobige Tasche.»Sie hat ihren gerechten Teil vom Leben noch nicht gehabt, nicht wahr?«
Dorothy schwieg. Warum, fragte sie sich, sprachen nur alle in Floskeln? Es war jedes Mal dasselbe, wenn ein junger Mensch starb. Was war denn schon der gerechte Teil vom Leben? Das Mädchen war schön.»Haben Sie ihr die Augen geschlossen, Dr. Miliner?«
»Nein. Sie waren geschlossen.«
»Hat ihr Mörder sie geschlossen? Kann man das sagen?«
»Ich fürchte, nein, Inspector.«
Dorothy stand ebenfalls auf. Heller Sand haftete an den Knien ihrer Hosenbeine. Ein toter Mensch sah sehr, sehr friedlich aus. Nichts in seinem Gesicht verriet, welche Schrecken undÄngste er in den letzten Minuten ausgestanden hatte. Leichen waren entspannt. Entspannt wie ein Körper nach dem Sex. Was hatte Dennis Nilsen, der Londoner Muswell-Hill-Mörder, bei seiner Festnahme gesagt?›Die Leiche ist der schmutzige Teller, der vom Festmahlübrig bleibt.‹ War dies hier ein Festmahl gewesen? Sie wusste es nicht. Hatte der Mörder in diesem Fall beim Akt des Tötens Lust verspürt? Warum hatte er getötet? Und hatte er sich nachher die Hände gewaschen?
»Chief?« Es war Sergeant Cloud. Er sah ihr nicht in die Augen, sondern betrachtete ihren Mund.»Ich sollte Ihnen etwas zeigen.«
Es war eineöffentliche Toilette, wie jede andere in Brighton oder Hove. Allerdings war sie mit einer besonderen Haltevorrichtung für behinderte Personen ausgestattet worden. Chromfarbene Griffe befanden sich zu beiden Seiten der geräumigen Kabine. Der geflieste Boden war feucht. Es roch nach Urin und Desinfektionsmittel.
»Wer hat sie eigentlich gefunden?«, fragte Dorothy. Cloud konsultierte sein Notizbuch, obwohl er Fakten gewöhnlich immer im Kopf hatte.»Ein junger Kerl namens Roger Abony. Ein Stadtstreicher«, fügte er hinzu.»Dachte wohl erst, sie sei auf Drogen. Seiner Aussage zufolge hat er sich neben sie gesetzt und sie angesprochen, weil er hoffte, mit ihr liefe noch was.«
Sie nickte beinahe abwesend.»Was wollten Sie mir zeigen?«
»Sehen Sie das da?« Cloud wies auf zwei parallele schwarze Abriebspuren rechts und links vor der Toilettenschüssel. Ein Stück weiter im Gang waren noch mehr. Dieseüberschnitten sich jedoch und bildeten ein sternförmiges Muster.»Dr. Miliner sagt, es habe…« Cloud räusperte sich.»Es habe, nun ja, Verkehr stattgefunden.«
Der Spurensicherer Breckinridge mit seinem geheimnisvollen Tatortköfferchen hatte sicherlich jeden Winkel dieses Raumes bereits genauestens unter die Lupe genommen; da konnte es nicht schaden, wenn sie hier jetzt ebenfalls ein bisschen herumtrampelte und einstige Spuren verwischte.
Dorothy versuchte sich vorzustellen, wie der Mord verübt worden war. Der Täter musste sein Opfer zu Boden gezwungen haben. Vermutlich war er von hinten in sie eingedrungen. Aber was hatte er mit ihren K