Großmutter, das Schalentier
Je älter meine Großmutter wurde, desto jünger dachte sie zu sein. Sie dachte, sie wäre dreiundzwanzig, und war fünfundachtzig. Sie trank Weißwein und um vier Uhr nachmittags eine Tasse Kaffee. Doch beide Getränke hatten keinerlei Einfluss auf sie. Wenn es finster wurde, sagte sie immer, dass sie fort müsse, den Bus nicht versäumen dürfe, sonst nicht mehr nach Hause käme. Sie saß mitten in ihrer eigenen Küche, wo sie schon seit zehn Jahren saß und sich nie mehr fortbewegte, und nichts auf der Welt konnte sie davon überzeugen, dass sie zu Hause war. Ihre Kinder, meine Mutter und meine Tante also, sagten immer, dass es fürchterlich mit ihr sei, man nicht mehr mit ihr sprechen könne. Man konnte jedoch recht gut mit ihr sprechen, wenn man nur akzeptierte, dass sie im Moment des Gesprächs dreiundzwanzig Jahre alt war. Ich führte wunderbare Gespräche mit ihr. Manchmal dachte sie, ich sei ihre Schwester, manchmal, dass ich Renate hieß, und manchmal, dass ich eine Kollegin von ihr war, die auch Schneiderin war, wie sie. Sie hatte vergessen, dass ich meine Nähkarriere bereits als Zehnjährige beendet hatte und dass diese Karriere nur fünf Minuten lang gedauert hatte, denn dann hatte ich in meine Finger genäht, und zwar gründlich, weil ich vergaß, den Fuß vom Pedal unter dem Tisch zu nehmen, was die unaufhörlich auf- und absausende Nadel stoppen hätte können. Danach brauchte ich für den Rest des Jahres in der Schule nicht mehr zu nähen. Die kommenden Jahre wusste ich das Nähen dahingehend einzurichten, dass ich mich während der Schulstunden vollkommen dem Skizzenzeichnen und Zuschneiden hingab. Meine Mutter oder Schwester machten dann in der Zeit bis zur nächsten Nähstunde zu Hause wieder einige Nähte fertig.
Mit siebenundzwanzig brach ich mir den rechten Knöchel, genau wie meine Großmutter sich mit siebenundzwanzig den Knöchel gebrochen hatte. Mit dem Unterschied, dass sie aus einem brennenden Haus gesprungen war, ich dagegen einfach vor dem Eingang der Universität von meinem Fahrrad fiel. Doch habe ich mich oft gefragt, bis zu welcher Höhe ich aus einem Fenster springen könnte, ohne mir den Knöchel zu brechen, und Feuer im Haus war lange Zeit eines der furchtbarsten Geschehnisse, die ich mir vorstellen konnte. „Teufelmühle“ hieß das Haus, aus dessen Fenster meine Großmutter sprang, weil die auf der Straße unten stehenden Nachbarn ihr zuriefen, sie müsse springen, wenn sie nicht verbrennen wolle. Einige Minuten später kam die Feuerwehr mit einem Sprungtuch. Da lag meine Großmutter allerdings schon im Gras, den Fuß mit dem gebrochenen Knöchel hochgelagert, wie sie ihn in den anschließenden Wochen immer halten würde, nachdem sie ihr im Krank