: Andrea Grill
: Der Gelbe Onkel Ein Familienalbum
: Otto Müller Verlag
: 9783701361052
: 1
: CHF 13.50
:
: Erzählende Literatur
: German
: 132
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Jede Familie hat ihre eigenen Gesetze, ihre eigene Zeit und besonderen Orte - das erfrischende Debüt von Andrea Grill erkundet den Familienmenschen. 'Es wäre das beste, wenn Kinder auf Bäumen wüchsen.' Sie würden im Herbst herabfallen wie reife Birnen und niemand müsste sich für sie verantwortlich fühlen, so wie sie selbst zu nichts verpflichtet wären. Da wir aber nicht wie Obst vom Baum fallen, sind wir ein Leben lang mit bestimmten Menschen verbunden; Verwandten, denen wir zu Weihnachten und zu Ostern, auf Beerdigungen und Hochzeiten begegnen, beim Sonntagskaffee oder im Urlaub, und deren Leben uns oft so gegenwärtig erscheint wie unser eigenes. Doch wer sind diese Menschen, die wir so gut zu kennen glauben? In ihrem Debüt versammelt Andrea Grill feinsinnige und humorvolle Porträts, die von den Mitgliedern einer Familie erzählen. Da ist der Onkel, der die Farbe 'Beige' über alles liebt und ein Geheimnis bewahrt, das die Familie erst nach seinem Tod entdeckt. Tante Lulja aus Tirana, deren Lieblingsgetränk der Calvados ist, obwohl sie ihn noch nie im Leben getrunken hat, und die Großmutter, die als junge Frau aus einem brennenden Haus sprang, das 'Teufelmühle' hieß, und sich dabei den Knöchel brach, genau wie die Enkelin viele Jahre später, allerdings weniger spektakulär, indem sie vom Fahrrad fiel. So leicht die Prosa von Andrea Grill ist, so wenig glättet sie Schrulligkeit und Eigensinn der von ihr Porträtierten, umspielt die aus der Familiengeschichte Emporgehobenen der warme Ton des Erzählens.

Andrea Grill geboren 1975 in Bad Ischl, studierte u.a. in Salzburg und Thessaloniki und promovierte an der Universität Amsterdam über die Evolution endemischer Schmetterlinge Sardiniens. Sie schreibt Romane, Erzählungen und Gedichte, arbeitet als Übersetzerin aus dem Albanischen und veröffentlicht in Zeitungen und Zeitschriften. Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, so den Förderpreis der Stadt Salzburg 2010, den Otto Stoessl-Preis 2010 sowie den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2011. Nach Aufenthalten in Tirana, Cagliari (Sardinien), Neuchatel, Bologna und New York lebt sie in Wien.

Großmutter, das Schalentier

Je älter meine Großmutter wurde, desto jünger dachte sie zu sein. Sie dachte, sie wäre dreiundzwanzig, und war fünfundachtzig. Sie trank Weißwein und um vier Uhr nachmittags eine Tasse Kaffee. Doch beide Getränke hatten keinerlei Einfluss auf sie. Wenn es finster wurde, sagte sie immer, dass sie fort müsse, den Bus nicht versäumen dürfe, sonst nicht mehr nach Hause käme. Sie saß mitten in ihrer eigenen Küche, wo sie schon seit zehn Jahren saß und sich nie mehr fortbewegte, und nichts auf der Welt konnte sie davon überzeugen, dass sie zu Hause war. Ihre Kinder, meine Mutter und meine Tante also, sagten immer, dass es fürchterlich mit ihr sei, man nicht mehr mit ihr sprechen könne. Man konnte jedoch recht gut mit ihr sprechen, wenn man nur akzeptierte, dass sie im Moment des Gesprächs dreiundzwanzig Jahre alt war. Ich führte wunderbare Gespräche mit ihr. Manchmal dachte sie, ich sei ihre Schwester, manchmal, dass ich Renate hieß, und manchmal, dass ich eine Kollegin von ihr war, die auch Schneiderin war, wie sie. Sie hatte vergessen, dass ich meine Nähkarriere bereits als Zehnjährige beendet hatte und dass diese Karriere nur fünf Minuten lang gedauert hatte, denn dann hatte ich in meine Finger genäht, und zwar gründlich, weil ich vergaß, den Fuß vom Pedal unter dem Tisch zu nehmen, was die unaufhörlich auf- und absausende Nadel stoppen hätte können. Danach brauchte ich für den Rest des Jahres in der Schule nicht mehr zu nähen. Die kommenden Jahre wusste ich das Nähen dahingehend einzurichten, dass ich mich während der Schulstunden vollkommen dem Skizzenzeichnen und Zuschneiden hingab. Meine Mutter oder Schwester machten dann in der Zeit bis zur nächsten Nähstunde zu Hause wieder einige Nähte fertig.

Mit siebenundzwanzig brach ich mir den rechten Knöchel, genau wie meine Großmutter sich mit siebenundzwanzig den Knöchel gebrochen hatte. Mit dem Unterschied, dass sie aus einem brennenden Haus gesprungen war, ich dagegen einfach vor dem Eingang der Universität von meinem Fahrrad fiel. Doch habe ich mich oft gefragt, bis zu welcher Höhe ich aus einem Fenster springen könnte, ohne mir den Knöchel zu brechen, und Feuer im Haus war lange Zeit eines der furchtbarsten Geschehnisse, die ich mir vorstellen konnte. „Teufelmühle“ hieß das Haus, aus dessen Fenster meine Großmutter sprang, weil die auf der Straße unten stehenden Nachbarn ihr zuriefen, sie müsse springen, wenn sie nicht verbrennen wolle. Einige Minuten später kam die Feuerwehr mit einem Sprungtuch. Da lag meine Großmutter allerdings schon im Gras, den Fuß mit dem gebrochenen Knöchel hochgelagert, wie sie ihn in den anschließenden Wochen immer halten würde, nachdem sie ihr im Krank