2. Rettende oder vernichtende Kritik?
„Rettende Kritik“ ist eine griffige Formel, die Autoren gern anwenden, wenn sie einem fragwürdigen Gegenstand Gutes tun wollen. Der Name Walter Benjamins verleiht der Formel eine gewisse kulturgeschichtliche Weihe, auch wenn Benjamin selbst dieser Formel keinen großen Theorie-Gehalt aufladen wollte. Das Epitheton läßt als solches, noch vor seinem Gebrauch, einen messianischen Kontext erwarten. Retten, gut… Aber wovor? Und wozu? Die Formel impliziert, daß das zu Rettende bedroht sei. Bedroht von Verdammnis, Verstoßung, Verbot oder Vergessen. Geht es um Kunst oder Literatur, liegt die Idee des Kanons nahe, auch wenn jene Autoren, die die messianische Formel gebrauchen, solche Nachbarschaft nicht gern erwähnen. Sie„arbeiten“ an einem neuen Kanon oder sind von einemüberlieferten Kanon abhängig oder wollen in seinen Räumen, seinen Abteilungen gewisse Umschichtungen vornehmen, damit sie im Machtkampf der gerade laufenden Kanondiskussion ihre Favoriten und damit sich selbst plazieren können.
Auf der anderen Seite gibt es zum Rettenden einen Komplementärbegriff, nämlich das Vernichtende (oder Verdammende, will man den heilsgeschichtlichen Duktus bewahren). Tatsächlich wird immer wieder versucht, Autoren aus dem Kanon hinauszukomplimentieren, meist in der Absicht, anderen dadurch Platz zu schaffen. Arno Schmidt hat auf solche Unternehmungen einige Energie verschwendet, mit alles in allem geringem Erfolg: Stifter zum Beispiel ist immer noch„drinnen“, und der Platz eines Motte-Fouqué ist immer noch am unteren Ende der Tafel der Literaturgeschichte. Schmidt wollte Stifter vernichten, wie Friedrich Hebbel ihn seinerzeit aus dem Literaturbetrieb draußen haben wollte: die Geschichte samt ihrer zeitresistenten Moräne, dem Kanon, ist letztlich nur der Langzeitaspekt des Betriebs. Bei seinen kritischen Bemühungen ist Schmidt auf etwas gestoßen, das ich nach längerem Sträuben als wahren Kern akzeptiert habe: In dem sanften Freund des Menschen, der Natur und der Schöpfung, als der sich der Rosenherr im utopischen RomanDer Nachsommer um jeden Preis präsentieren will, steckt ein potentieller Gewalttäter. Gustav von Risach, der rosenzüchtende Gutsbesitzer, weist verschiedene, zwar idealisierte, aber erkennbare Züge des Autors auf. Was für Risach gilt, gilt mutatis mutandis auch für Stifter, und Stifter selbst war sich der Ambivalenz seines Charakters durchaus bewußt. In seinen Schriften hat er diese Ambivalenz nur in wenigen Momenten offen darzulegen versucht. Zumeist verschweigt oder transformiert er sie, wie auch imNachsommer die Problematik viel komplexer ist, als Arno Schmidt, der sich bei seiner vernichtenden Kritik nur auf die eine Romanfigur bezieht, wahrhaben will. Der Lebenslauf Risachs wird den Erfahrungen und Absichten seines jungen Schützlings Heinrich Drendorf gegenübergestellt, und zwischen beiden gibt es sowohl Gegensätze als auchÜbereinstimmungen. Die Frage nach der Gewalt hinter dem schönen Schein rumort im Gefüge von Stifters utopischem Roman. In anderen Werken des Autors läßt sie sich laut vernehmen. Manchmal mit einer Stärke, daß der schöne Schein zerreißt.
Nolens volens ist mit diesenÜberlegungen bereits ein Stück rettender Kritik geleistet. Wobei es nicht darum geht, Stifter oder seine Figuren von einer Schuld reinzuwaschen, von einemästhetischen oder ethischen Vergehen, sondern darum, einem Werk gerecht zu werden, das sich nicht so einfach auf der Soll- oder Habenseite verbuchen läßt.