Dölmas Tagebuch
Erstes Heft
Kathmandu, Freitag
Wahrscheinlich träume ich. Oder bin ich wirklich da, wo ich zu sein glaube? Vor Tibets Haustür?
Es regnet, als wolle der Himmel sich ausschütten, bis zum letzten Tropfen. Eine Welt von Nässe, und wenn die Sonne sich darauf stürzt, dampft es wie die Hölle. Monsun, stand im Reiseführer, aber kein Wort von aufgeweichten Straßen mit knöcheltiefen Wasserlöchern, von schweißnassen Haaren und ständig feuchter Unterwäsche.
Ich bin ein phantasieloser Mensch. Das hat Hans-Peter immer gesagt. Warum denke ich jetzt an Hans-Peter? Nach sechs Jahren liegt sein Schatten noch immer auf mir. Doch den werde ich abschütteln, ich gehe in meine verzweifelte Heimat und schüttle Hans-Peter und Anna und das Haus in Zollikon und den ganzen Berg falschen Lebens ab.
Gestern war ich auf der weißen Stupa und schaute nach Norden zum Shivapuri, der die Schneeberge verdeckt. Dahinter Tibet. Ich musste weinen. Land meiner Eltern, meiner Verwandten, meiner Vorfahren. Es tut so weh, dass ich nichts von ihnen weiß. Vielleicht gibt es irgendwo eine Schwester, einen Bruder, Nichten, Neffen, Großeltern. Ich werde sie nie kennenlernen.
Nirgends gibt es einen großen Spiegel, in dem ich mich sehen könnte mit meinem neuen tibetischen Kleid, nicht einmal in dem kleinen Laden an der Stupa, wo sie mir morgens die Maße nahmen, und am Nachmittag lag das Kleid schon fertig bereit. Es ist sattblau – wie der Himmel über Tibet, sagte der Schneider, und die Seidenbluse glänzt silbern wie der Zürichsee am Morgen. Ich versuche, nicht an die giftigen Farbstoffe zu denken. Sie sind überall, nicht nur in den Kleidern. Das leere Spekulationsgrundstück hinter dem Gästehaus steht teilweise unter Wasser, Abwasser, die Oberfläche schillert bösartig, aber es scheint allen gleichgültig zu sein. Wundert mich das? Ich habe so lange inmitten von Gleichgültigkeit gegenüber allen seelischen Vergiftungen gelebt, und die sind wohl noch viel schlimmer.
Es ist schön, ein langes Kleid zu tragen. Als verwandle es den Körper. Ich nehme die Spange aus den Haaren und fühle mich wie Rapunzel oben im Turm. Doch unten ruft kein Prinz nach mir. Wird irgendwann in diesem Leben noch ein Prinz nach mir rufen? Vielleicht werde dann ich selbst die Hexe sein, die Rapunzel festhält.
Abend
Stromausfall. Glücklicherweise lag eine Kerze auf dem Tisch bereit, man ist das hier gewohnt. Die Kerze ist krumm, sie zischt und spuckt und tropft hysterisch. Selbst die Kerzen sind anders in diesem Land.
Die Karte an Pema-Marie, soll ich sie abschicken? Es ist eine hübsche Karte, die weiße Kuppel der Stupa mit den großen Augen und den unzähligen flatternden Gebetsfähnchen, alles golden überzogen vom Abendlicht. Aber nichts von dem steht darauf, was ich schreiben wollte. Nichts davon, dass ich mir Mühe gebe, sie zu lieben, und ihr so viel Gutes wünsche, ein besseres Leben als meines, oder davon, wie unglücklich ich immer war, weil ich keine gute Mutter sein konnte. Erst vor sehr kurzer Zeit, als ich mich entschlossen hatte, in meine verlorene Heimat zu reisen, begann dieses Gefühl des Unglücks, der Bordunton meines Lebens, aufzusteigen und