: Elisabeth Reichart
: Die Voest-Kinder
: Otto Müller Verlag
: 9783701361878
: 1
: CHF 16.30
:
: Erzählende Literatur
: German
: 301
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der neue Roman von Elisabeth Reichart erzählt die Kindheit eines Mädchens, das Mitte der 1950er Jahre in der Voest-Siedlung an der Donau aufwächst, dem Wohnviertel, das für die Mitarbeiter der Voest-Werke gebaut wurde. In ihrer magischen Welt entflieht das Kind der Realität, bis es vom tristen Alltag und der Vergangenheit eingeholt wird. Aus seiner Perspektive erfährt man von der inneren Befindlichkeit der aufwachsenden jungen Generation, aber auch von der Verzweiflung derjenigen, die ihre Jugend im Nationalsozialismus verbringen mussten, der Elterngeneration.

Elisabeth Reichart, geboren 1953 in Steyregg in Oberösterreich, studierte Geschichte und Germanistik in Salzburg und Wien. Dissertation im Fach Geschichte zum Thema 'Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Salzkammergut'. Nach längeren Aufenthalten in Japan und den USA, lebt Elisabeth Reichart heute als freie Schriftstellerin in Wien. Für ihre literarischen Arbeiten erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, den Anton-Wildgans-Preis und den Oberösterreichischen Landeskulturpreis.

I.

Sonntags verwandelte sich der Ort: Bereits am Vormittag waren die Gasthäuser offen, gingen die Voestler hinein und kamen heraus, vor der Kirche, nach der Kirche, konnten die Kinder es kaum fassen, dass es sie jeden Sonntag wieder gab, ihre Väter – die Kinder umkreisten sie aufgeregt, staunend, zwickten sie, um glauben zu können, was sie sahen.

Nur die Väter hatten einen Namen: Voestler, Eisenbahner, Wirt, Arzt, Pfarrer, Trafikant, Bürgermeister, Briefträger, Fleischhauer, Schuster, Schneider, Polizist und Pensionist. Früher gab es eine Hebamme, aber die hat der Friedhof verschluckt, erzählte die Großmutter ihrer Enkelin.

In der Kirche war der Pfarrer der Besitzer der Worte. Er redete allein in einer Sprache, die niemand außer ihm und Gott verstand: Latein. Nicht einmal die Großmutter des Kindes verstand jedes Wort, obwohl sie täglich in die Kirche ging. Nur die Sonntagspredigt, für die der Pfarrer den Altar verließ und auf die Kanzel hinaufstieg, hielt er auf deutsch. Alle schwiegen, obwohl er bei jeder Predigt mehrmals schrie, was verboten war, wie das Kind wusste. Die Predigten mochte das Kind nicht: Es herrschte eine gedrückte Stimmung in der Kirche, solange der Pfarrer auf der Kanzel Deutsch redete. Manche Worte hüpften gegen die Säulen und taten ihr in den Ohren weh, von anderen bekam sie eine Gänsehaut, die sie zappeln ließ. Halt still, wurde sie von der Mutter ermahnt, aber manchmal hielt sie die Worte des Pfarrers nicht aus und rannte ins Freie, sah die Grabkreuze tanzen, die Blumen in die Luft fliegen oder die Gräber und Blumen unter sich, eingehüllt in den Voest-Rauch, bis die Großmutter sie umarmte und mit ihr nach Hause ging.

Latein werde in all den unzähligen Kirchen auf der ganzen Welt gesprochen, erzählte die Großmutter ihrer Enkelin, die nur dara