Daß jemand mit siebzig anfängt, ein Tagebuch zu führen, mag ungewöhnlich sein, aber ich fange heute damit an. Der Sommer neigt sich seinem Ende zu, ähnlich wie mein Leben. Ich scheine einigermaßen gesund zu sein, meine Eltern wurden beide sehr alt, also besteht die Möglichkeit, daß ich vielleicht noch an die zwanzig Jahre zu leben habe. Als ich zwanzig Jahre jung war, meinte ich schon ein volles Menschenleben lang gelebt zu haben, erschien mir meine Zeit auf Erden bereits reichlich bemessen. Das sind Gedanken der Jugend, für die Zeit ein anderes Ausmaß besitzt, die gegenwärtig lebt und nicht vorausdenkt, weil für sie Zukunft unendlich zu sein scheint. Was mit siebzig jedoch zu fehlen beginnt, ist genau das: Zukunft.
Also bedarf es einer intensiveren Wahrnehmung der Gegenwart, also der Tage und all ihrer Täglichkeit, um das Leben noch zu spüren, dachte ich mir. Und wo und wie kann ich dies besser bewerkstelligen, als im täglichen Aufschreiben, im täglichen Notieren der Vorgänge und Ereignisse auch augenscheinlich untätiger und ereignisloser Zeiten? Die Chronistin, die ich ab nun sein möchte, kann vielleicht aus Alltäglichkeiten Lebens-Sinn herausfiltern. Den Sinn dessen, sich immer noch, und alt geworden, hier auf Erden zu befinden. Ich wage also den Versuch, damit heute zu beginnen.
Ja, heute zum Beispiel.
Der Samstag eines Wochenendes im Spätsommer.
(Ich brauche kein Datum. Daten engen ein. Wozu datieren, was sich ohnehin dem Ende zuneigt.)
Aus den umliegenden Häusern dringt kein Laut, alle Bewohner scheinen verreist oder im Schwimmbad zu sein. Auch die Gasse liegt reglos unter der Sonne, kein Auto ist unterwegs. Die hohen Bäume, die mein Haus umgeben, flüstern leise im Wehen der heißen Luft, nur dieses Geräusch ist zu hören. Ich sitze vor dem geöffneten Fenster und habe den bläulichen Schirm meines Laptops vor mir. Wenn ich jedoch die Augen hebe, schaue ich in dichtes Ahornlaub, das sich sanft bewegt. Ja, ich schreibe per Computer, ich konnte das noch erlernen und es fiel mir nicht einmal schwer. Ich werde das Geschriebene täglich ausdrucken und die Papierblätter in eine Mappe legen, dann ähnelt das Ganze ein wenig einem herkömmlichen Tagebuch.
Seit Jahren lebe ich allein. Mein einziges Kind, eine Tochter, starb. Ich möchte darüber nicht mehr sag