: Friedrich Hebbel
: Christian Schärf
: »Poesie der Idee« Tagebuchaufzeichnungen
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104022949
: Fischer Klassik Plus
: 1
: CHF 4.00
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: Anthologien
: German
: 405
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit einem Nachwort des Herausgebers. Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. »Es soll ein Notenbuch meines Herzens sein«, schrieb Friedrich Hebbel 1835 auf das erste Blatt seines Tagebuchs, das dennoch weit mehr als ein Protokoll der eigenen Befindlichkeit ist. Entschieden subjektiv, humorvoll und erstaunlich weitsichtig erkundet Hebbel in seinen Notizen Welt und Kunst im Allgemeinen. Seine gestochen scharfen Denkbilder haben philosophisches Format und sind doch immer direkt ans unmittelbare Erleben geknüpft; damit bieten Hebbels Aufzeichnungen einzigartige Einblicke in die Alltagswelt des 19. Jahrhundert aus der Sicht eines unstillbaren Beobachters und unbestechlichen Denkers. - Christian Schärf unternimmt einen pointierten Streifzug durch eines der berühmtesten Tagebücher der Weltliteratur, das noch heute verblüffend originell und modern erscheint.

Friedrich Hebbel, Lyriker, Essayist und einer der bedeutenden nachklassischen Dramatiker und Dramentheoretiker, wurde am 18. März 1813 in Wesselburen/Dithmarschen geboren. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, konnte er die Schule nur wenige Jahre besuchen. Nach dem Tod seines Vaters 1827 lebte er zunächst als Schreiber in Wesselburen und studierte nach autodidaktischen Studien von 1836 bis 1839 in Heidelberg und München. 1840 wurde sein erstes Drama ?Judith? in Berlin uraufgeführt. Ab 1843 hielt er sich mit einem königlich-dänischen Reisestipendium in Kopenhagen, Paris, Rom und Neapel auf. In Wien, wo er von 1845 bis zu seinem Tod am 13. Dezember 1863 lebte, erhielt Hebbel schließlich Anerkennung für sein Werk. ?Maria Magdalena?, ?Agnes Bernauer? und ?Die Nibelungen? zählen zu seinen größten Theatererfolgen. Seine kritischen Schriften und Tagebücher, die erst nach dem Tod größere Aufmerksamkeit fanden, zeugen von seiner luziden Beobachtungsgabe und aphoristischen Schärfe.

1837


[München]


Die erste Bitte, mit der ich in diesem angefangenen neuen Jahr vor den Thron der ewigen Macht zu treten wage, ist die Bitte um einen Stoff zu einer größeren Darstellung. Für so mancherlei, das sich in mir regt, bedarf ich eines Gefäßes, wenn nicht alles, was sich mir aus dem Innersten losgerissen hat, zurücktreten und mich zerstören soll! Wenig positive Kenntnis, aber höhere Einsicht in meine eigene Natur und deren Zustände, bessere Übersicht vieler Dinge der Welt und des Lebens, tiefere Erkenntnis des Wesens der Kunst und größere Herrschaft über jenes Unbegreifliche, das ich unter dem Ausdruck Stil befassen mögte, hab ich doch gewonnen. Ich bin der Natur um tausend Schritt nähergekommen; ich hab sie im letzten Sommer vielleicht zum erstenmal – sonst war sie mir weniger Wein, als Becher, wie so vielen, – genossen, und dafür hat sie mir denn – so gewiß ists, daß nur Genuß zum Verständnis führt, – manches vertraut. An Schriftstellern, die auf mich gewirkt, muß ich zuerst Goethe nennen, den ich in Heidelberg durch Gravenhorsts Güte fast ununterbrochen gelesen habe; dann aber auch Börne und endlich Jean Paul. Ich habe mich mehr und mehr von der Wahrheit des all meinem Streben zum Grunde liegenden Prinzips, daß bei dem Menschennie von äußerer Erleuchtung, sondern nur von inneremTagen die Rede sein könne, überzeugt; mein Evangelium ist: alles Höchste, in welchem Gebiet es auch sei,erscheint nur, und wird selbst durch den geweihtesten Priester vergebensgerufen; man entdeckt nichtsdurch die Wissenschaft, sondern nurbei Gelegenheit der Wissenschaft; dies aber gibt der Wissenschaft noch Würde genug. An bedeutenden Persönlichkeiten hab ich kennengelernt:Gustav Schwab undLudwig Uhland; sowie aus anderen FächernThibaut undMittermeier;Schelling undGörres; an StädtenHeidelberg,Straßburg undMünchen; an Werken bildender Kunst: denMünster und die Antiken derGlyptothek. Etwas, doch nur wenig, bin ich auch in der mir in den Dithmarsischen Schmach- und Pein-Verhältnissen verlorengegangenen Fertigkeit, mich, wenn ich Menschen gegenüberstehe, selbst für einen Menschen zu halten, weitergekommen.

[552]

 

Das, was man üble Laune nennt, entspringt bei höheren Menschen nicht, wie bei so vielen, aus augenblicklichem Mangel an Genuß, sondern aus jenem Zustand innerer Leere, der ihnen unerträglicher ist, als Stillstand des Lebens selbst. Wenn sie ihre üble Laune ebensowenig, wie andere, in sich verschließen und sie die Nah- und Nächstgestellten empfinden lassen, so liegt der Grund allerdings teilweise in der durch solche Augenblicke gänzlicher Erschlaffung herbeigeführten Schwäche, hauptsächlich aber wohl in dem halb unbewußten Haschen der Seele nach irgend einer Art von Tätigkeit. Sie verwundet sich selbst, um nur zu erwachen.

[554]

 

Wie seltsam ists, daß man vonGestorbenen so selten träumt!

[578]

 

O, wie oft fleh ich aus tiefster Seele: o Gott, warum bin ich, wie ich bin! Das Entsetzlichste!

 

Zuweilen mein ich, eine reine weibliche Natur könne mich retten.

[583]

 

Beppi führt ein seltsames, sonderbares Traumleben. Heut nacht hat ihr geträumt, sie wäre mit einem andern Mädchen zum Tode verurteilt gewesen und sie hätten sich mitten aufm Wasser gegenseitig köpfen sollen. Die andere habe sie zuerst geköpft, es sei viel Blut geflossen, dennoch habe sie zu leben und zu denken nicht aufgehört. Nun habe sie mit einem breiten Messer die andere köpfen sollen, sie habe es aber nicht vermogt und sie in den Kopf gehauen, daß man das Gehirn habe liegen sehen können. Dann hätten sie beide angefangen, mit Inbrunst zu beten; viel Volks sei am Ufer des Wassers umhergestanden und habe mitgebetet und geweint. –

[587]

 

Einem Brauer in München träumt zur Zeit der Cholera, es käme einer der heiligen drei Könige mit einem Speer zu ihm und stäche ihn nieder. Einer Frau in seiner Nachbarschaft träumt in der nämlichen Nacht das nämlich