: Amitav Ghosh
: Der rauchblaue Fluss
: Blessing
: 9783641096632
: Ibis-Trilogie
: 1
: CHF 8.90
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: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 720
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein monumentaler Roman über Ruhm und Leid in einer frühen Ära der Globalisierung
Kanton 1838. Über den sagenumwobenen Perlfluss gelangen Glückssucher und Abenteurer aus aller Welt in die chinesische Hafenstadt: Für den jungen Maler Robin Chinnery ist die pulsierende Metropole der ideale Zufluchtsort, um den Heiratsplänen, die seine Mutter für ihn hat, zu entkommen. Der britische Botaniker Fitcher Penrose ist in Begleitung seiner jungen Assistentin Paulette unterwegs nach Kanton, um dort nach einer geheimnisvollen Kamelienart zu suchen, der wahre Zauberkräfte zugesprochen werden. Und der indische Kaufmann Bahram Modi erhofft sich mit der größten Ladung Opium, die er je von Kalkutta nach Kanton transportiert hat, das Geschäft seines Lebens. Es sieht so aus, als würden die Dinge gut für ihn anlaufen, denn man beruft ihn in die Kantoner Handelskammer. Doch dann beginnen die autoritätseinflößenden Mandarine den ausländischen Kaufleuten auf den Leib zu rücken, denn der chinesische Kaiser will den Handel mit Opium verbieten. Und plötzlich stehen alle Zeichen auf Krieg ...
Ein schillerndes Epos, ein entlarvender Blick auf die Ursprünge unseres Wirtschaftssystems und eine Verbeugung vor der chinesischen Kulturgeschichte, betörend und spannend zugleich.

Amitav Ghosh wurde 1956 in Kalkutta geboren und studierte Geschichte und Sozialanthropologie in Neu-Delhi. Nach seiner Promotion in Oxford unterrichtete er an verschiedenen Universitäten. Mit 'Der Glaspalast' gelang dem schon vielfach ausgezeichneten Autor weltweit der große Durchbruch. Zuletzt erschien seine Romantrilogie 'Das mohnrote Meer', 'Der rauchblaue Fluss' und 'Die Flut des Feuers' (2016) bei Heyne. Ghosh lebt in Indien und den USA.

Erstes Kapitel

Ditis Schrein verbarg sich in einer Felswand, in einem entlegenen Zipfel von Mauritius, wo die West- und die Südküste der Insel aufeinanderstoßen und den windgepeitschten Bergstock Morne Brabant hervorbringen. Der Ort war eine geologische Besonderheit – eine Höhle, von Wind und Wasser in den Kalkstein gegraben; etwas Ähnliches gab es nirgendwo sonst auf dem Berg. Später sollte Diti behaupten, dass nicht der Zufall, sondern das Schicksal sie dorthin geführt habe –, denn man konnte sich nicht vorstellen, dass der Ort tatsächlich existierte, solange man ihn nicht betreten hatte.

Die Colver-Farm lag am anderen Ende der Bucht, undim hohen Alter, als ihre Knie schon steif von der Arthrose waren, konnte Diti die Höhle nur noch aufsuchen, wenn sie in ihrem pus-pus, einer Art Sänfte, hinaufgetragen wurde. Der Besuch des Schreins war deshalb stets eine regelrechte Expedition, an der etliche männliche Mitglieder der Familie Colver teilnehmen mussten, vor allem die jüngeren und kräftigeren.

Den ganzen Clan zu versammeln La Famie Colver, wie sie auf Kreolisch hieß war nicht leicht, da seine Angehörigen weit verstreut lebten, sowohl auf der Insel als auch im Ausland. Einmal im Jahr aber, im Hochsommer, während der großen Ferien, die dem Neujahrsfest vorausgingen, konnte man sich darauf verlassen, dass sich jeder bemühen würde zu kommen. Die Famie fing Mitte Dezember an zu mobilisieren, und zu Beginn der Feiertage war der ganze Clan auf den Beinen. Begleitet von ganzen Trupps aus Schwagern, Schwägerinnen, Schwiegervätern, Schwiegermüttern und anderen angeheirateten Verwandten, bewegten sich die Colver’schen Schlachtreihen in einer gigantischen Zangenbewegung konzentrisch auf die Farm zu: Einige kamen auf Ochsenkarren über das neblige Hochland, aus Curepipe und Quatre Bornes, andere reisten per Schiff an, aus Port Louis und Mahébourg, dicht an der Küste entlang, bis der nebelverhangene Nippel des Morne in Sicht kam.

Vieles hing vom Wetter ab, denn man konnte den windumtosten Berg nur an einem schönen Tag besteigen. Wenn die Bedingungen günstig schienen, begannen die Vorbereitungen dazu schon am Vorabend. Das Festmahl, das auf die puja folgte, war stets der am ungeduldigsten erwartete Teil der Pilgerfahrt, und schon die Vorbereitungen waren von großer Begeisterung und freudiger Erwartung begleitet: Der mit einem Blechdach gedeckte Bungalow hallte wider von Hackmessern, Mörsern und Nudelhölzern, während masalas gemahlen, Chutneys abgeschmeckt und Berge von Gemüse zu Füllungen für parathas und daalpuris verarbeitet wurden. Wenn die Speisen in Blechbehältern und Vorratsschränken verstaut waren, gingen alle frühzeitig ins Bett.

Bei Tagesanbruch sorgte Diti höchstpersönlich dafür, dass alle sich schrubbten und badeten und keinem auch nur der kleinste Bissen zwischen die Zähne kam, denn wie alle Pilgerfahrten musste auch diese mit einem äußerlich wie innerlich reinen Körper unternommen werden. Diti stand stets als Erste auf, tappte, den Stock in der Hand, über den Holzfußboden des Bungalows und posaunte einen Weckruf, in der eigenartigen Mischung aus Bhojpuri und Kreol, die zu ihrem persönlichen Idiom geworden war: »Revey-té! É Banwari; é Mukhpyari! Revey-té na! Haglé ba?«

Bis die ganze Sippe aus dem Bett und auf den Beinen war, erhellte die Sonne bereits die Wolken, die den Gipfel des Morne verhüllten. Diti übernahm die Führung in einer Pferdekutsche, und die Prozession rumpelte aus der Farm hinaus, durch die Tore und den Hügel hinab zu der Landbrücke, die den Berg mit dem Rest der Insel verband. Weiter kamen die Fahrzeuge nicht, deshalb stiegen hier alle aus. Diti nahm in ihrem pus-pus Platz, und die jüngeren Männer wechselten sich an den Stangen ab und trugen so den Sessel durch das dichte Grün der unteren Hänge bergan.

Unmittelbar vor dem letzten, steilsten Teil des Anstiegs tat sich eine willkommene Lichtung