: Joachim Gneist
: Wenn Haß und Liebe sich umarmen Das Borderline-Syndrom
: Piper Verlag
: 9783492959872
: 1
: CHF 8.10
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: Allgemeines, Lexika
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Drei bis vier Millionen Menschen leiden in Deutschland am Borderline-Syndrom, das als die Krankheit unserer Kultur verstanden wird. In keiner anderen Symptomatik seelischen Leidens spiegeln sich so deutlich charakteristische Merkmale unserer Gesellschaft: Orientierungslosigkeit, Zerstörungswut, aber auch eine neue Sinn- und Identitätssuche.

Joachim Gneist (1938-2022) studierte Theologie, Philosophie und Medizin. Am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München absolvierte er seine Ausblidung zum Facharzt, es folgte die Weiterbildung in Psychodrama und Psychoanalyse. Von 1975 bis 2004 war er als Psychiater und Psychotherapeut in eigener Praxis tätig, seit 1980 auch als Ausbilder und Supervisor für Psychodrama und andere Psychotherapien.

DIE GRENZE IST DER EIGENTLICH FRUCHTBARE ORT DER ERKENNTNIS

Einleitung

Haß und Liebe sind zwei feindliche Geschwister. Sie kommen beide aus der Familie der Gefühle und begleiten uns von Geburt an. Die Menschwerdung besteht eigentlich ein Leben lang darin, die Spannung von Haß und Liebe in sich selbst wahrzunehmen, zu verstehen und konsequent danach zu handeln. Alle Menschen haben mehr oder weniger Probleme damit, die gegensätzlichen Kräfte von Liebe und Haß in sich auszuhalten. Ich erzähle in diesem Buch Geschichten von betroffenen Frauen und Männern, die diesen Zustand nicht ertragen. Bei ihnen bekämpfen sich Liebe und Haß wie Wasser und Feuer und schließen sich gegenseitig aus. Ein Mensch allein kann den Widerstreit der Gefühle in sich schon kaum verkraften. Wenn es aber dann um Beziehungen und Auseinandersetzungen in Beziehungen geht, werden Liebe und Haß so weit wie möglich voneinander weggehalten oder jeweils bis ins Extrem gesteigert.

DasÜberschießende von Haß oder Liebe kann einen Menschen in einer Situation so gefangennehmen, daß gar keine Energie mehrübrigbleibt, einenäußeren Rahmen mit anderen aufrechtzuerhalten und zufüllen. So kann das jeweilige Gegenüber gezwungen sein, für die Eindämmungüberschwappender Gefühle, aber auch für Abgrenzung zu sorgen.

Das Ganze ist weit mehr als ein Krankheitsphänomen einer bestimmten Patientengruppe. Es ist auch ein Zeitphänomen der heute lebenden Generationen. Die Männer und Frauen, von denen ich hier berichte, nenne ichBorderline-Menschen, weil sie mit ihrem Beispiel an Grenzen und Abgründe führen, die sich allen Menschen auftun können, aber von denen sich die meisten fernhalten.

Borderline-Menschen tun sich unendlich schwer mit Abgrenzungen nach innen und außen. Damit berühren sie Grundfragen: Wieviel Nähe und Distanz braucht der Mensch, und wieviel kann er ertragen?

Das Chamäleon»Borderline«

Der Ausdruck»Borderline-Persönlichkeit« kam in den 40er Jahren auf und war ursprünglich eine Verlegenheitsdiagnose, die auf eine Grenzstörung bzw. das Niemandsland zwischen Psychose und Neurose hinweisen sollte. Das Lebensthema von Borderline-Menschen sind ihre nicht vorhandenen oder unklaren Grenzen. Es geht mir um einen Daseinsbegriff und grundlegende Beziehungsmuster, nicht um ein Krankheitsetikett. Beängstigende Störung und Quelle lebendiger Erfahrung liegen dicht beisammen.»Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis« (PAUL TILLICH).

Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeit fallen mit ihren vielfältigen, widersprüchlichen Wahrnehmungen von sich und der Umwelt, die ich hier beschreiben möchte, oft aus dem Rahmenüblicher Vorstellungen. Sie können sich nicht mehr verständlich machen und werden oft mißverstanden.

Wenn sie therapeutische Hilfe suchen, können sie auch dort rasch an Grenzen stoßen. Jede Therapeutin, jeder Therapeut hat andere Grenzen. Verschiedene Therapeuten ordnen je nach ihrem Selbst- und Weltverständnis denselben Menschen u. U. diagnostisch unterschiedlich ein und behandeln ihn wahrscheinlich auch verschieden. Therapeuten haben unterschiedliche Rahmenvorstellungen davon, was entgrenzt und was noch normgerecht ist.

Was mit Menschen los ist, die nach meiner Einschätzung in das Borderline-Konzept passen, finde ich nur heraus, indem ich die Reaktion der Patientin oder des Patienten auf mich in meiner Art und natürlich auch meine Reaktion auf sie oder ihn zur Grundlage der therapeutischen Zusammenarbeit mache.

In diesem Buch beziehe ich mich aufgrund meiner Praxis auf die Arbeit mit Menschen, mit denen eine ambulante Behandlung möglich ist. Ein Patient trifft bei einer Therapeutin oder einem Therapeuten immer auf jemanden mit einer speziellen Ausbildungs- und Erfahrungsgeschichte.

In mir ergänzen und reiben sich die verschiedenen Rollen als Arzt und Psychiater, als Psychodramatiker und Psychotherapeut, und das Ganze basierend auf meinen philosophisch-anthropologischen Grundannahmen. Der Psychiater mit seinen Diagnosekriterien hält Abstand zum Patienten, der Psychotherapeut läßt sich mehr oder weniger nah auf die Geschichten seiner Klienten ein, und der Psychodramatiker bietet an, innere Bilder szenisch darzustellen, die rein verbal gar nicht vermittelbar wären. Außerdem ist es im Rahmen psychodramatischer Arbeit möglich, Realität in kleinen Schritten zu erproben. Die Beispiele im Buch sollen zeigen, wie je nach Situation die verschiedenen Rollen in mir unterschiedlich zum Tragen kommen, mal harmonisch, mal spannungsreich.

Warum nimmt dieÖffentlichkeit die Borderline-Menschen so wenig zur Kenntnis? Nach vorsichtigen Schätzungen sind bereits 5 % der Gesamtbevölkerung betroffen. Das ist die drittgrößte Gruppe offiziell psychisch Kranker, nach den Süchtigen und den Depressiven. Warum haben sie nicht einmal in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachwelt eine Lobby? Ich nehme zwei Hauptgründe an:

1. Im