: Sofi Oksanen
: Stalins Kühe Roman
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462306217
: 1
: CHF 11.00
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 496
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein furioser Roman über ein in der Literatur nicht beachtetes Thema Anna hat alles im Griff. Sie dient einer »Herrin«, der Bulimie, denn es gibt nichts Wichtigeres für sie, als einen vollkommenen Körper zu besitzen und unangreifbar zu sein.Annas Eltern trennen sich, als ihre Mutter Katariina herausfindet, dass ihr Mann sie betrügt. Sie, die Estin, verleugnet ihre Herkunft, weil sie weiß, welch schlechtes Ansehen Estinnen in Finnland haben - sie gelten als russische Huren, die es geschafft haben, durch Heirat nach Finnland zu entkommen. Aus Angst, dass ihrer Tochter die gleiche Verachtung zuteil wird wie ihr, darf diese die Sprache nicht lernen und keinem sagen, woher die Mutter stammt. Dabei fahren die beiden regelmäßig nach Estland, um die Familie zu unterstützen, die das Grauen der sowjetischen Arbeitslager kennenlernte und unter den Bespitzelungen und Erpressungen durch enge Vertraute litt. Während Anna um ihr Gewicht kämpft und lernen muss, dass sie wirklich krank ist und die anorektische Bulimie sie umbringen kann, erfährt der Leser die Hintergründe der Familiengeschichte, Ursache für Annas Leiden, die bis in die Zeit der Besetzung Estlands nach dem Zweiten Weltkrieg zurückreicht.In brillanter Sprache, mit genauer Kenntnis der historischen Hintergründe und einer meisterhaften Komposition beweist Sofi Oksanen erneut, warum ihre Romane weltweit gefeiert werden.

Sofi Oksanen, geboren 1977, Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Ihr dritter Roman, »Fegefeuer«, war monatelang Nummer eins der finnischen Bestsellerliste und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Finlandia-Preis, dem Literaturpreis des Nordischen Rates und dem Prix Femina. Der Roman erschien in über vierzig Ländern und machte die Autorin auch in Deutschland zu einer der wichtigsten Vertreterinnen der internationalen Gegenwartsliteratur. Sofi Oksanen lebt in Helsinki.

Jeden Sommer, wenn wir längere Zeit bei Mutters Mutter verbrachten, futterte Mutter sich mehrere Kilo an. Auf Arbeits- und Dolmetscherreisen bestand dafür keine Möglichkeit, vor lauter Sprechen und Dolmetschen schaffte sie es niemals, ihren Teller leer zu essen, aber auf anderen Reisen, auf kurzen und längeren, bekleidete Mutter sich reichlich mit Essen und legte es, nach Finnland zurückgekehrt, Kilo für Kilo wieder ab, bis sie fünfzig Kilo wog so wie zuvor und so wie ich jetzt.

Wir sind genau gleich groß, Mutter und ich, wir haben dieselbe Statur, dieselbe Kleidergröße, dieselben schmalen Schultern, dieselben Vogelhandgelenke und dieselbe Schuhgröße vierzig. Dieselbe Körbchengröße und denselben Kopfumfang. Vierzehn Jahre lang habe ich mich um die fünfzig Kilo herum bewegt, und ich kehre immer wieder dahin zurück, ich kehre dahin zurück, obwohl ich es nicht möchte, ich kehre dahin zurück, auch wenn ich mich gar nicht darum bemühe, mein Gewicht kehrt immer auf dasselbe Niveau zurück. Vor vierzehn Jahren war ich zu meiner vollen Größe herangewachsen, und Mutter und ich hätten dieselben Kleider tragen können, wenn unser Geschmack nicht so gegensätzlich gewesen wäre. Wir aßen nicht dasselbe Essen; auch wenn Mutter lernte, finnische Gerichte zu essen, hat sie mich niemals dazu gezwungen. Ich war mit dem Essen auch sonst so wählerisch, dass Mutter nach meinen Wünschen kochte. Immer schob sie mir Desserts und Schokoladentafeln zu, in Finnland deshalb, weil es so wenig davon gab, in Estland aus demselben Grund, aber auch, weil ich für den typisch finnischen Winter auf Vorrat schlemmen sollte. Den finnischen Kakao lehnte ich ab, und deshalb schickte Großmutter aus Estland Kakao und Schokoladenpralinen in einem Paket, das in braunes Packpapier gewickelt war.

Aus finanziellen Gründen konnte Mutter mir in Finnland nicht so viel Schokolade und Runebergtorte kaufen, wie mein endlos nach Süßem verlangender Magen gefasst hätte, aber dort, wo sie es konnte, wollte sie mir alles geben. Außerdem litt Mutter nicht an chronischem Hunger nach Süßem, sondern aß lieber etwas Salziges und anderes Estnisches, das sie in ihrem Körper für Finnland einlagerte. Ich bekam alles Süße, einfach alles. Ganze Pralinenpackungen … für mich … ganze Bleche voll von diesem und jenem … für mich … kiloweise Bonbons Kekspackungen Torten Baisers für mich, ganz allein für mich; wie hätte ich da irgendein Maßhalten lernen sollen?

Ich habe wohl kein einziges Mal eine einzelne Banane oder Apfelsine gekauft. Es musste immer mindestens ein Kilo sein. Der Inhalt meines Einkaufswagens sieht auch heute aus wie der Wochenendbedarf einer Großfamilie. Oder so, als wollte ich mit meiner Familie für eine Woche ins Sommerhaus auf eine Insel fahren und niemand wollte während dieser Woche die Insel auch nur ein einziges Mal verlassen. Ich bin außerstande, eine Handvoll Salmiakpastillen zu kaufen, es muss ein Sackvoll sein. Oder gar nichts. Ich koche zwei Liter Sauerkrautsuppe für einen Tag und esse sie auch bestimmt im Verlauf des Tages auf. Ebenso Tomatensuppe. Ich kann diese zwei Liter nicht auf zwei, drei Tage verteilen und nicht einmal auf mehrere Mahlzeiten an einem Tag, sondern ich muss sie auf ein Mal aufessen. Oder ich esse gar nichts. Ich kann nicht nur Wimperntusche auftragen, ich muss mir die Augen vollständig schminken. Ich kann nicht nur eine einzige Zigarette paffen, sondern will Kette rauchen. Ich kann mich nicht mit der angemessenen Menge Parfum besprühen, sondern es muss so viel sein, dass es bis in den Hausflur zu riechen ist. Ich kann nicht einmal eine Viertelstunde telefonieren, sondern es müssen fünf Stunden oder fünf Sekunden sein.

Ich bringe es nicht fertig, mit Fett zu knausern; der Tropfen tötet, und im Eimer ertrinkt man. Wenn man ein Fass aufmacht, dann richtig. Brot natürlich, Käse vom Fettesten, Orangenmarmelade, Haferkekse, Schokoladenkekse, Schokoladentafeln, Pizzas, karelische Piroggen, Ambrosia-Torte, eingefrorene Franzbrötchen, Mango-Melone-Eis … De