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Franz, Wilhelm undKaspar liefen mit schnellen Schritten vom Friedhof her durch den Park.
Ganz mit anderen Problemen beschäftigt, hatten sie kein Auge für die entstehende Schönheit der Anlage oder die während des Unwetters geschlagenen Scharten.
»Bleib doch mal stehen!«, forderte Wilhelm.
Kaspar beschleunigte seine Schritte.
»Lasst mich bloß in Ruhe! Wir sollen nach Sturmschäden Ausschau halten. Der Fürst wartet auf eine Meldung. Vielleicht geht er auch selbst durch den Park – und dann trifft er auf mich, einen seiner Gärtnergehilfen, der sich hier mit Freunden unterhält! So was riskier ich nicht!«, erklärte er etwas außer Atem.
»Nun erzähl schon! Wie ist es mit Sofia gewesen?«, bedrängte Franz den Freund.
Kaspar wand sich. »Das ist kein Thema für euch!«
»Hab dich nicht so!«, forderte auch Wilhelm aufgeregt.
»Was denkt ihr denn? Darüber spricht man nicht! Das geht nur Sofia und mich etwas an!« Kaspar erhöhte noch einmal das Tempo.
»Haha! Du konntest sie nicht überzeugen, sich küssen zu lassen! Gib es nur zu: Die Dame hat sich geziert und du kamst nicht zum Zuge!«, zog Wilhelm den anderen auf.
»Ich glaube, wir brauchen ein paar handgreiflichere Argumente, um seine Zunge zu lösen«, drohte Franz, begann, die Ärmel seines zu dünnen Hemdes hochzukrempeln und schüttelte scherzhaft die geballte Faust unter Kaspars Nase.
»Versuch’s!« Ehe sich die beiden Freunde versahen, war Kaspar losgestürmt, schlug geschickt ein paar Haken, wetzte um die nächste Ecke, raste in Richtung Kugelberg davon. Entschlossen setzten die beiden anderen ihm nach.
Nach drei weiteren Bögen, scharfen Kanten und überraschenden Richtungswechseln blieb Kaspar so plötzlich stehen, dass Franz ungebremst in Wilhelm krachte, weil er so schnell nicht anhalten konnte.
Sprachlos starrten sie auf das albtraumhafte Bild, das sich ihnen bot.
Sofia und alle Geheimnisse um das nächtliche Treffen mit dem Gärtnergehilfen waren vergessen.
In einem Anflug von guter Erziehung zog Kaspar hastig seine Mütze vom Kopf und presste sie atemlos mit beiden Fäusten gegen seine magere Brust.
»Oh Gott! Was ist das?«, fragte der lange Wilhelm mit so hoher Stimme, dass der Gehilfe erschrocken herumwirbelte und ihn verwundert ansah.
»Lebt er noch?«, hauchte Franz neugierig, äugte über Wilhelms Schulter und strubbelte durch seine halblangen schwarzen Haare.
»Schau doch richtig hin! Wie kann der wohl noch am Leben sein?« Wilhelm, der zwar seinen burschikosen Ton wiedergefunden hatte, aber noch immer unnatürlich bleich war, schubste Franz ein Stück vor. »Nein, nein! Der tut dir nichts mehr, du Angsthase!«
»Wie ist der bloß hierhergekommen?«, murmelte Kaspar und machte Anstalten, näher heranzugehen. Schaffte aber nur einen halben Schritt auf die Stelle zu, an der durch den Sturz des Baumriesen das gesamte Wurzelwerk aus der Erde gerissen worden war.
»Nicht!«, warnte Wilhelm. Packte den Freund mit eisernem Griff an der Wolljacke. Riss ihn auf den Weg zurück. »Weißt du denn nicht, dass sie giftig sind?«
»Er hat recht. Man muss Abstand halten!«, wusste auch Franz.
Der Körper des Knaben war auf beunruhigende Weise mit den Wurzeln des Baumes verwoben. Als hielten sie ihn wie Finger für die Ewigkeit umklammert und wären nicht bereit, ihn an die Welt der Menschen abzutreten.
Dem Jungen hing die Zunge aus dem Mundwinkel, erdig und fast schwarz. Beide Augen, trübe und ohne Glanz, waren aus den Höhlen getreten. Um seinen Hals wand sich ein grüner Seidenschal, von Goldfäden durchwirkt, der so gar nicht zu der eher ärmlichen Kleidung passen wollte, die er außerdem am Leib trug. Ein hüftlanges weißes Hemd aus grobem Stoff umflatterte den Körper, einige der Knöpfe fehlten. Die Hose reichte nur zur halben Wade, war verschlissen und an manchen Stellen lieblos geflickt. Alles starrte vor Schmutz. Strümpfe oder gar Schuhe trug er nicht.
»Unheimlich!«, stellte Kaspar fest. »Meint ihr, der ist da irgendwie reingeraten?«
»Nie und nimmer!«, entschied Franz großspurig. »War der schon immer so dünn, oder ist das später passiert?«
»Woher sollen wir das wissen? Ich habe den noch nie zuvor gesehen!« Kaspar kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. »Die Haarfarbe wäre mir doch aufgefallen!«
»Schade, dass von seinem Gesicht nur so wenig zu erkennen ist. Das meiste fehlt ganz«, bedauerte Franz und gab vor, sich nicht zu grausen.
»Diese Würmer überall!« Wilhelm schüttelte sich angewidert. »Wie bei dem toten Schwein damals, wisst ihr noch? Das wir an der Spree gefunden hatten?«
Die Freunde nickten.
»Wenn ich da noch lange hingucken muss, wird mir schlecht!«, verkündete Kaspar. »Was machen wir denn jetzt?«
Das war ein echtes Problem. Eigentlich sollten die drei längst ihr Tagwerk begonnen haben.
»Meister Julius kriegt einen schrecklichen Wutanfall. Ich müsste schon seit einer ganzen Weile in der Backstube sein«, fiel Wilhelm ein und er schlug sich erschrocken mit der Hand gegen den Kopf.
»Dann sollten wir besser einem der Gärtner von dem Toten erzählen. So macht es im Dorf die Runde und bestätigt unsere Geschichte. Dein Meister wird Verständnis haben!«, behauptete Kaspar.
»Der Petzold wohl nicht!«, dämpfte Franz die Erwartungen des anderen. »Das gibt gewaltig Ärger. Der wird toben! Der Stall sollte zu dieser Zeit ausgemistet sein. Das setzt eine ordentliche Tracht Prügel!«, orakelte er dann. »Am Ende wirft er mich raus!«<