Zara sucht eine passende Geschichte
Aliide. Aliide Truu. Zaras Hände lösten sich vom Rand der Bank. Aliide Truu war am Leben und stand vor ihr. Aliide Truu wohnte in diesem Haus. Die Situation erschien ihr ebenso fremd wie die Zunge in ihrem Mund. Zara erinnerte sich dunkel, wie sie es geschafft hatte, den richtigen Weg und die Silberweiden am richtigen Weg zu finden, aber nicht daran, ob sie überhaupt begriffen hatte, dass sie das richtige Haus gefunden hatte, ob sie in der Nacht vor der Haustür gestanden hatte, ohne zu wissen, was sie tun sollte, ob sie daran gedacht hatte, den Morgen abzuwarten, damit man im Haus nicht vor dem nächtlichen Besuch erschrak, ob sie versucht hatte, im Stall einen Schlafplatz zu finden, ob sie in die Küche gespäht und nicht gewagt hatte, an die Tür zu klopfen, ob sie überhaupt erwogen hatte, an die Tür zu klopfen, oder ob sie überhaupt irgendetwas gedacht hatte. Wenn Zara versuchte, sich zu erinnern, bekam sie schneidende Kopfschmerzen, sodass sie sich auf den gegenwärtigen Moment konzentrierte. Sie hatte keine weiteren Pläne für den Fall, dass sie ans Ziel gelangen würde, geschweige denn dafür, dass sie auf dem Hof des gesuchten Hauses auf Aliide Truu treffen würde. So weit hatte sie gar nicht denken können. Jetzt musste sie versuchen voranzukommen, sie musste ihre Panik in den Griff kriegen, obwohl die nur auf den Augenblick wartete, sie wieder anzufallen, sie musste den Gedanken an Pascha und Lawrenti verdrängen und es wagen, im Hier und Jetzt zu leben und Aliide Truu zu begegnen. Sie musste sich zusammenreißen. Mutig sein. Sich daran erinnern, wie man sich Menschen gegenüber verhielt, und die richtige Einstellung zu der Frau finden, die vor ihr stand. Deren Gesicht war voller kleiner Runzeln und feinknochig, jedoch ausdruckslos. Die Ohrläppchen waren langgezogen, daran baumelten an Haken Steine, die in rötlich schimmerndes Gold gefasst waren. Aliides Augen wirkten grau oder blaugrau, in den Augenwinkeln saß anscheinend etwas wässriger Eiter. Zara wagte es nicht, sie oberhalb der Nase anzusehen. Aliide war kleiner, als sie es sich vorgestellt hatte, geradezu mager. Der Wind trug Knoblauchgeruch von Aliide herüber.
Sie hatte nicht viel Zeit. Pascha und Lawrenti würden sie finden, daran bestand kein Zweifel. Aber hier war Aliide Truu, und hier war das Haus. Würde die Frau bereit sein, ihr zu helfen? Sie würde Aliide ihre Lage sehr schnell klarmachen müssen, aber Zara wusste nicht, was sie sagen sollte. In ihrem Kopf war Leerlauf, obwohl er von dem Brot klarer geworden war. Die Wimperntusche brannte ihr in den Augen, die Strumpfhose war kaputt, sie selbst stank. Es war dumm von ihr gewesen, ihre blauen Flecke vorzuzeigen, jetzt hielt die Frau sie für ein Mädchen, das sich in Unannehmlichkeiten bringt oder geprügelt werden will. Für jemanden, der etwas auf dem Kerbholz hat. Und was, wenn die Frau so eine war wie die Babuschka, von der Katja erzählt hatte, die so ähnlich war wie Oksanka, die für Männer wie Pascha arbeitete und Mädchen in die Stadt schickte zu Männern wie Pascha? Woher sollte sie das wissen? Irgendwo in ihrem Hinterkopf erscholl Paschas Hohngelächter, und das erinnerte Zara daran, dass ein so dummes Mädchen mit keiner Situation allein zurechtkommt. Ein so dummes Mädchen verdient es, für sein Stottern, seine Unsauberkeit und sein Stinken geschlagen zu werden, ein so dummes Mädchen verdient es, im Waschbecken zu ertrinken, weil es hoffnungslos dumm und hoffnungslos hässlich ist.
Aliide Truu sah sie unangenehm direkt an, stützte sich auf die Sense und plapperte von der Abschaffung der Kolchosen, so als wäre Zara eine alte Bekannte und vorbeigekommen, um über dies und das zu plaudern.
»Hier kommen kaum jemals Fremde vorbei«, sagte Aliide und zählte die Häuser auf, aus denen die jungen Leute fortgegangen waren. »Von den Kokas sind welche nach Finnland gegangen, um da Häuser zu bauen, und die Kinder der Roosnas sind nach Tallinn gezogen und Geschäftsleute geworden. Der Sohn von Voorel hat sich für Politik begeistert und nach Tallinn abgesetzt. Den sollte ich direkt mal anrufen und ihm sagen, sie sollen ein Gesetz machen, dass man vom Land nicht einfach so weggehen kann. Wie soll man denn hier sein Dach repariert kriegen, wenn es keine Arbei