Kapitel 1
An diesem Freitagmorgen wehte eine starke Brise. Wenn Janna-Berta aus dem Fenster schaute, sah sie die jungen Birkenblätter in der Sonne glitzern. Die Schatten der Zweige zitterten auf dem Asphalt des Schulhofs. Über die Pavillondächer schneite es Kirschblütenblätter. Der Himmel war tiefblau. Nur vereinzelte Wolken, weiß und leicht wie Watte, trieben über ihn hin. Für einen Maimorgen war es außergewöhnlich warm. Die Sicht war klar.
Plötzlich heulte die Sirene. Herr Benzig brach seinen Kommentar zur neuen Französisch-Lektion mitten im Satz ab und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Neun vor elf«, sagte er. »Komische Zeit für einen Probealarm. Es stand auch nichts davon in der Zeitung.«
»Das ist ABC-Alarm!«, rief Elmar, der Klassenbeste.
»Wahrscheinlich stand’s doch wo, und ich hab’s nur übersehen«, sagte Herr Benzig. »Machen wir weiter.«
Aber kaum hatte er sich wieder in die Lektion vertieft, knackte es im Lautsprecher. Alle blickten zu dem kleinen Quadrat über der Tür. Nicht die Sekretärin sprach, sondern der Direktor.
»Soeben wurde ABC-Alarm gegeben. Der Unterricht schließt ab sofort. Alle Schüler begeben sich auf schnellstem Weg nach Hause.«
Es folgten ein paar Sätze, die in wildem Lärm untergingen. Alle rannten zu den Fenstern und spähten hinaus.
»Verstehst du, was das soll?«, fragte Meike, Janna-Bertas Freundin.
Janna-Berta schüttelte den Kopf. Sie spürte, wie ihr die Hände kalt wurden. Irgendetwas war geschehen. Aber was? Sie dachte an Uli, ihren kleinen Bruder.
»Geht nach Hause«, sagte Herr Benzig.
Vom Korridor drang Lärm herein: aufgeregtes Geschrei, eilige Schritte, Türenschlagen.
»Was ist denn überhaupt los?«, rief Janna-Berta.
Herr Benzig hob die Schultern.
»Ich weiß nicht mehr als ihr«, sagte er. »Bitte geht jetzt. Lauft so schnell ihr könnt! Aber behaltet einen klaren Kopf.«
»Soll wahrscheinlich eine besonders lebensnahe Katastrophenübung sein«, sagte Elmar und packte scheinbar seelenruhig seine Tasche. Aber Herr Benzig schüttelte den Kopf.
»Davon hätte ich gewusst«, sagte er.
Dann riss einer die Tür auf und rannte hinaus. Die anderen stürmten ihm nach. Im Gang gab es ein wildes Gedränge. Ein paar Schüler versuchten, sich gegen den Strom durchzukämpfen. Unter ihnen erkannte Janna-Berta Ingrid aus der Parallelklasse. Ingrid wohnte in der Rhön. Janna-Berta war in den Pausen oft mit ihr zusammen.
»Jetzt geht doch kein Bus nach Uttrichshausen!«, rief sie Janna-Berta zu. »Erst in anderthalb Stunden. Ich ruf daheim an, die sollen mich holen.«
Aber auch vor dem Sekretariat drängten sie sich schon. Es würde lange dauern, bis Ingrid telefonieren konnte. Janna-Berta wollte bei ihr stehen bleiben, kam aber nicht gegen den Strom an, der zur Treppe drängte. Sie hielt sich an Meikes Arm fest, während sie Stufe um Stufe hinabgeschoben wurde. Der Lärm nahm zu. Unten, in der Pausenhalle vor dem Ausgang, schrie jemand: »Grafenrheinfeld! Alarm in Grafenrheinfeld!«
Janna-Berta versuchte sich zu erinnern: Grafenrheinfeld– war da nicht ein Kernkraftwerk?
Als sie das Schulgebäude verließ, hasteten ein paar Knirpse, Fünftklässler, an ihr vorbei. Ohne nach rechts und links zu sehen, liefen sie über die Straße. Reifen quietschten. Ein Autofahrer hupte wild und schimpfte hinter den Kindern her. Offensichtlich wusste er noch nichts.
Vor dem Zebrastreifen blieb Janna-Berta unschlüssig stehen.
»Ich hab jetzt auch keinen Bus«, sagte sie.
»Komm doch erst mal mit zu mir«, schlug Meike vor.
Janna-Berta schüttelte den Kopf.
»Willst du zu Fuß nach Schlitz?«, fragte Meike.
»Meine Eltern sind h