1. KAPITEL
Irgendwo im Haus schrie ein Säugling. Es dauerte eine Weile, bis Gwen Langworthy klar wurde, dass das Schreien aus ihrem Frühstückszimmer kam. Das Geräusch wurde zu einem jämmerlichen Wimmern, bevor es erneut anschwoll. Gwen machte Licht.
Vor der hohen Schiebetür, die in den Garten hinausführte, stand eine hellblaue, tragbare Babywippe aus Kunststoff. Und darin lag, in eine rosafarbene Decke gewickelt, ein winziges Baby, das noch nicht älter als einen oder zwei Tage sein konnte. Auf einem beigelegten Zettel stand „Amy“.
Gwen strich sich die kastanienbraunen Locken hinter die Ohren, hob das kleine Mädchen hoch und wiegte es auf den Armen. Sie war Hebamme und liebte Babys über alles. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie von einer kleinen Familie und dem großen Glück geträumt hatte. Aber dann hatte Mark sie in dem Augenblick, in dem dieses Glück endlich anfangen sollte, verlassen.
„Du bist also Amy“, flüsterte sie. Das Baby hatte aufgehört zu weinen. Es trug ein handgestricktes weiß-gelb-blau gestreiftes Jäckchen mit passender Mütze. Offenbar hatte jemand sich sehr liebevoll um das Kind gekümmert.
Nur um es dann einfach im Stich zu lassen? Gwen meinte zu hören, wie auf der Straße ein altersschwacher Motor stotternd angelassen wurde und dann aufheulte. Aber im schnell verdämmernden Herbstlicht konnte sie hinter den dunklen Bäumen nichts erkennen.
Die kleine Amy strampelte, verzog ihr Gesichtchen und fing wieder an zu weinen. Gwen drückte sie tröstend an sich und ging zum Telefon, um ihre Freundin Shaye anzurufen. Dieses Kind würde nicht aufwachsen, ohne seine Eltern zu kennen – und ohne zu erfahren, warum es ausgesetzt worden war.
„Mr. Maxwell.“ Gwen versuchte, den ohrenbetäubenden Lärm mit ihrer Stimme zu übertönen. Endlich ließ der dunkelhaarige Mann den Hammer sinken. Er war groß, und mit seinen breiten Schultern wirkte er in dem engen Schuppen wie ein Riese. Bekleidet war er mit einem schwarzen T-Shirt und abgewetzten Jeans. Trotz des dämmrigen Lichts sah Gwen fasziniert, dass er graue Augen hatte.
„Kann ich Ihnen helfen?“, erkundigte er sich. Sehr freundlich klang das nicht.
Aber so schnell ließ Gwen sich nicht einschüchtern. „Das hoffe ich“, erwiderte sie mit Nachdruck.
Garrett Maxwell stand in dem Ruf, ein Eigenbrötler zu sein, und in Wild Horse Junction bekam man ihn kaum zu sehen. Im Zusammenhang mit einem vermissten Kind, das mit seiner Hilfe gefunden wurde, war er in einem Artikel der Lokalzeitung erwähnt worden. Das war der Grund, weshalb sie hier war.
Als er keine Anstalten machte, ihr zu antworten, sondern sie nur regungslos ansah, atmete sie tief durch. „Sie sind doch Garrett Maxwell?“
„Vielleicht verraten Sie mir zuerst, mit wem ich es zu tun habe.“ Er betrachtete seine Besucherin ausführlich von Kopf bis Fuß, und sie hatte den Eindruck, als registrierte er jede Einzelheit von ihren schulterlangen Locken über die grüne Bluse und die khakifarbenen Shorts bis hin zu ihren bequemen braunen Schuhen.
„Ich heiße Gwen Langworthy.“
Immerhin legte er seinen Hammer auf dem Sitz des Rasenmähers ab. „Und? Was führt Sie zu mir?“
Es war jetzt fünf Tage her, dass sie das Baby gefunden hatte, und es hatte sich noch nichts Neues ergeben. Der Sheriff kam mit seinen eher halbherzigen Nachforschungen nach der Mutter nicht weiter, und langsam riss ihr der Geduldsfaden. Deshalb hatte sie beschlossen, selbst nach dieser Frau zu suchen.
Gwen hatte am eigenen Leib erfahren, was es bedeutete, seine leiblichen Eltern nicht zu kennen: Gerade zwei Jahre war sie alt gewesen, als sie in einer Kirche ausgesetzt worden war. Darunter litt sie bis heute.