PROLOG
Dimitri Kyriakis starrte auf das Anwesen seines Vaters. Auf keinen Fall würde er sich gestatten, beeindruckt zu sein. Doch es gelang ihm nicht. Die Villa - zumindest das, was er am Ende der von Bäumen gesäumten Auffahrt sehen konnte, war riesig, ein strahlend weißes Monument für Reichtum und Macht. Er würde keinen Schritt auf diese Auffahrt machen können, ohne nicht vorher den korrekten Zahlencode einzugeben, der den Mechanismus zum Öffnen des großen schmiedeeisernen Tores in Gang setzte. Und bei einem Versuch, über das Tor zu klettern, würden mit Sicherheit sofort die Wachleute zur Stelle sein.
Aber er musste eine Möglichkeit finden. Um seiner Mutter willen.
Darauf hatte sie ein Recht.
Er war vierzehn Jahre alt. Ein Mann. Nun, fast. Und er war gekommen, um sich zu holen, worauf er ein Anrecht hatte. Keine Macht der Welt würde ihn abhalten können zu tun, was nötig war.
Die knochigen Schultern hochgezogen, setzte er sich in Bewegung und lief unter der heißen griechischen Sonne an der hohen Mauer entlang, die das Grundstück umgab. Er trug sein bestes Hemd. Billig, aber makellos weiß. Wüsste seine Mutter, dass er hier war, würde sie einen Anfall bekommen. Wahrscheinlich gleich mehrere.
Er wollte über die Vorstellung lächeln, wie die sanfte Eleni Kyriakis einen Wutanfall bekam, doch der brennende Kloß in seiner Kehle verhinderte es.
Gestern Abend hatte sie es ihm gesagt. Als er von seinem Aushilfsjob, den er nach der Schule in der hektischen heißen Küche eines der besten Hotels in Athen wahrnahm, in die drückende kleine Mietwohnung zurückgekehrt war. Er fand seine Mutter über das Bügelbrett gebeugt, Bügeln gehörte zum Service der Ein-Personen-Wäscherei, die seine Mutter betrieb, um noch etwas hinzuzuverdienen, nachdem sie ihre Putzstellen erledigt hatte.
Sie hatte sich eine graue Strähne aus der Stirn gestrichen, und ihr Lächeln war sanftmütig wie immer gewesen, verriet nichts von dem, was nun folgen sollte.
"Setz dich zu mir, mein Sohn, ich möchte dir etwas erzählen." Sie hatte leise geseufzt."Du hast oft gefragt, wer dein Vater ist, und jedes Mal habe ich dir geantwortet, dass ich es dir eines Tages sagen werde, wenn du älter und reifer bist und es verstehen kannst. Doch die Umstände haben sich geändert."
Tränen hatten in ihren Augen geschimmert, was selten vorkam, und ihm gezeigt, dass etwas nicht stimmte. Er erinnerte sich genau an das ungute Ziehen in seinem Magen, als sie ihm berichtete, dass sie ärztliche Untersuchungen hinter sich hatte. Ihr Herz machte nicht mehr richtig mit, es konnte jederzeit aufhören zu schlagen. Und sie hatte tapfer gelächelt, ein Lächeln, das er sein Lebtag nicht vergessen würde.
Sie hatte seine Hände genommen."Doch was wissen die Ärzte schon, nicht wahr? Ich werde ihnen zeigen, dass sie sich irren, du wirst schon sehen. Doch nur für den Fall … Ich werde dir von deinem Vater erzählen. Er sah so gut aus, besaß so eine magnetische Ausstrahlung, und ich habe ihn so sehr geliebt."
Dann nannte sie ihm den Namen des Mannes, und er sah seine geliebte Mutter plötzlich mit ganz anderen Augen. Er betrachtete das einst schöne Gesicht, dessen Wangen jetzt eingefallen waren, und die verräterisch blauen Lippen. Ab diesem Moment wusste er genau, was er zu tun hatte.
Jetzt kletterte er an der hohen Mauer empor, suchte nach Ritzen und Einbuchtungen, in denen er mit Händen und Füßen Halt finden konnte. Er entspannte sich ein wenig, als er auf der anderen Seite leise auf dem makellos gepflegten Rasen landete. Der schwere Duft von Jasmin hing in der Luft, weiter vorn beim Haus konnte er Stimmen hören. Eine männliche, scharf und kurz angebunden, und eine weibliche, flehend und klagend.
Als er in die volle Sonne trat, konnte Dimitri sie sehen. Der Mann in dem hellen Leinenanzug war sein Vater. Sein Foto war oft genug in den Wirtschaftsmagazinen erschienen, sodass Dimitri ihn sofort erkannte. Die Frau, jung und feminin, trug ein Kleid, das weich ihren Körper umschmeichelte. Sie schützte sich mit einem Sonnenschirm, das Gesicht leicht von seinem Vater abgewandt. Diamanten blitzten in ihren Ohren auf. Allein für den Preis der Juwelen hätte seine Mutter die letzten beiden Jahre nicht arbeiten müssen.
Das musste die zweite Frau sein, die seine Mutter erwähnt hatte.
Entschlossen lief Dimitri auf die beiden zu, seine langen schlaksigen Beine trugen ihn über das Gras, sodass er schnell in Sichtweite kam. Dieser skrupellose Mann, verheiratet, Vater eines kleinen Sohnes, hatte eine seiner Angestellten verführt und sie dann prompt hinausgeworfen, als sie ihm sagte, dass sie schwanger war.
Mit ihm, Dimitri!
Dafür würde der Mann bezahlen!
Sein Eindringen war registriert worden. Jeder Muskel in Dimitris Körper war angespannt, sein Mund staubtrocken. Er hob das Kinn, als der Mann, der sein Vater war, auf ihn zukam und seine Ehefrau zurückließ.
"Wer bist du? Was willst du hier?" Die Stimme verriet den Despoten, der sich in seinem Königreich sicher fühlte, sich in dem Reichtum seiner Reedereien und noblen Hotels sonnte. Eine Hand glitt in die Hosentasche, wie Dimitri beobachtete. Trug er etwa eine Waffe bei sich? Wollte er den ärmlichen Bauern erschießen und auf Notwehr plädieren? Oder alarmierte er per Funk seine Sicherheitsleute, damit sie den Eindringling so unspektakulär vom Grundstück warfen wie nutzlosen Müll?
Dimitri weigerte sich, seine Nervosität die Oberhand gewinnen zu lassen. Er hob zu sprechen an und schickte ein stilles Stoßgebet zum Himmel, dass ihn der Stimmbruch, den er noch durchmachte, nicht in Verlegenheit führen würde."Ich bin Dimitri Kyriakis, Eleni Kyriakis' Sohn. Dein Sohn."
Das Schweigen schien in der Sonne zu gerinnen. Die Hand wurde aus der Hosentasche genommen und an die Seite geführt. Sie war leer.
"Das lässt sich leicht behaupten. Und noch leichter bestreiten." Ein ungeduldiger Wink mit der Hand, und die schwarz gekleidete, breitschultrige Gestalt, die den Weg hinuntergeeilt kam, blieb stehen."Was willst du von mir?"
Ein herablassendes Lächeln erschien auf dem attraktiven Gesicht. Dimitri wurde rot. Er ließ sich von niemandem beleidigen, aber wenn es um das Wohlergehen seiner Mutter ging, kannte er keinen Stolz. Sie hatte sich krumm geschuftet, um sie beide durchzubringen, hatte auf Essen verzichtet, damit ihr Sohn keinen Hunger leiden