1. KAPITEL
Schuld an allem war Paris.
Das prächtige, elegante, gleichzeitig schamlose und grelle, verführerische Paris …
Metropole der Liebenden, der Romantik. Die Stadt, deren Zauber sich niemand entziehen konnte, die die Sinne verwirrte und das Blut in Wallung brachte, die alle Vorsicht vergessen ließ.
Und Paris am Nationalfeiertag, am Jahrestag des „Sturms auf die Bastille“, forderte seine Besucher dazu heraus, alle Konventionen abzuschütteln, liberal, kühn und wagemutig zu sein. Der Geist der Revolution lag in der Luft, die ganze Stadt bebte vor Euphorie, und die tropisch anmutenden Temperaturen verliehen der Festtagsstimmung eine exotische Note. Touristen und Einheimische gleichermaßen verstopften die Straßen und feierten bis tief in die schwüle Nacht. Alle Hemmungen abzulegen und sich von der leidenschaftlichen Stimmung mitreißen zu lassen gehörte einfach dazu.
O ja, ganz gewiss, Paris war schuld! Wie hätte eine einsame, unerfahrene Reisende aus Neuseeland – eine Kiwi, wie die Neuseeländer sich selbst nannten – nicht auf die raffinierten Tricks der verführerischsten Stadt der Welt hereinfallen sollen?
Langsam zog Veronica Bell die französischen Türen auf, die das Schlafzimmer vom Rest des kleinen Apartments trennten, und überquerte auf Zehenspitzen den Fußboden aus blank polierten Eichendielen. Ihre Riemchensandalen und den hauchdünnen Häkelschal hielt sie fest an die Brust gedrückt. Mit knapp einem Meter achtzig Körpergröße und üppigen Proportionen gesegnet, fiel es ihr nicht gerade leicht, heimlich zu verschwinden. Sie hielt kurz inne, um sich zu orientieren, und bemerkte schockiert, dass ihre Handtasche nicht mehr da war, wo sie sie gelassen hatte.
Oder eher, wo sie vermutete, diese abgelegt zu haben.
Denn zugegebenermaßen verdrängte der überwältigende Höhepunkt ihrer letzten Nacht in der französischen Hauptstadt fast alles andere aus ihrer Erinnerung. Sie strich sich die vom Schlaf zerzausten Haare aus dem Gesicht und kämpfte gegen die Panik an, die sie beim Gedanken an das Risiko, das sie auf sich genommen hatte, befiel.
Zunächst musste sie sich auf das dringendste Problem konzentrieren – einen würdevollen Abgang.
Die Dämmerung brach eben an, erste blasse Strahlen Morgenlicht drangen durch die schweren cremefarbenen Vorhänge vor den Doppelfenstern, die zur Straße hinausgingen. Veronica fürchtete schon, das Licht einschalten zu müssen, als sie ein verräterisches Glitzern auf dem dicken zottigen Teppich bemerkte. Sie bückte sich und fand die schwarze Paillettentasche, die von der Armlehne der niedrigen Couch gerutscht war und halb verdeckt hinter deren klobigem Fuß lag.
Ängstlich tastete sie nach Pass und Geldtasche.Alles vorhanden, Gott sei Dank! Nun musste sie weder einem zynischengendarme erklären, auf welche Weise sie sämtliche Reiseunterlagen und ihr Geld verloren hatte, noch einem hämisch grinsenden Beamten der neuseeländischen Botschaft.
Sie erhob sich und legte schleichend die letzten Meter bis zur Wohnungstür zurück.
Ein Rascheln hinter ihr, dann ein leises kehliges Knurren wie von einem Raubtie