Tillmann
An den Tag deiner Geburt kann ich mich vor allem deshalb erinnern, weil ich damals in den Sauteich fiel. Ich war fünf Jahre alt und besuchte diesen Tümpel öfters zusammen mit unserem Vater und Annette, meiner großen Schwester, um dort Kaulquappen zu fangen. Er hieß nicht etwa deswegen Sauteich, weil er schmutzig gewesen wäre, sondern weil neben ihm die Bronzefigur eines Ebers stand. Eber waren für mich die höchsten Tiere. Schon deshalb, weil ein roter Eber das Wappen meines Heimatortes Eberstadt zierte. Vor Kaulquappen hatte ich nicht so viel Respekt. In dem Aquarium, das unsere Eltern aufgestellt hatten, damit ich ihre Froschwerdung beobachten können sollte, führten sie einen verzweifelten Überlebenskampf. Meist nicht sehr erfolgreich, weshalb wir den Sauteich öfters besuchen mussten, um Nachschub zu besorgen. Kaulquappen, sagte unser Vater, während wir mit langen Keschern durch das Wasser pflügten, seien die Babys der Frösche. Und ein Baby hatten wir ja jetzt auch in der Familie. Dich, Benjamin.
Ach, das Baby. Ich hatte es zuvor im Krankenhaus kennengelernt. Und wie ich zu ihm stehen sollte, wusste ich nicht recht. Davor hatte ich nur das Gegenteil eines kleinen Bruders, eine große Schwester. Annette ist vier Jahre älter als ich. Bei meiner Geburt war ich aus ihrer Sicht ungefähr so groß wie ihre Puppen. Wenn wir Tierarzt spielten, war ich das kranke Kätzchen. Was passiert wäre, hätten wir Habicht und Häschen gespielt, möchte ich mir nicht ausmalen.
Wer kleiner Bruder einer großen Schwester ist, muss Geschäfte abschließen wie den Tausch eines nigelnagelneuen Darda-Aufziehflitzers gegen einen halbflüssigen Riegel Raider. Wer kleiner Bruder einer großen Schwester ist, muss zur Erbauung eines ihrer Schulfreunde dessen kleine Schwester auf den Mund küssen. Noch heute bin ich empört, wenn ich ein Filmchen betrachte, das mein Vater damals auf Super8 gedreht hat. Es zeigt mich mit meiner großen Schwester im Garten, wie wir darum balgen, wer ins Planschbecken darf. Vielmehr balge ich darum: Sie spielt seelenruhig mit ihrer Badeente und bugsiert mich immer wieder mit einem fast entrüstend beiläufigen Schubser beiseite. Wohl auch deshalb war ich wie Flip, der Grashüpfer aus »Biene Maja«, durch die Küche gesprungen, als unsere Eltern uns beim Abendessen eröffnet hatten, dass ein »kleines Brüderchen« auf dem Weg sei. In meinem Kopf nur ein Gedanke: Verstärkung.
Natürlich war das zu kurz gedacht. Der da kam, sollte mein Partner und mein Widerpart fürs Leben werden. Jemand, der meinen Schritten folgt und doch immer ein Stück voraus ist. Jemand, mit dem ich alles teile, obwohl wir nichts gemeinsam haben. Mit unseren Geschwistern führen wir die längste Beziehung unseres Lebens — und die wichtigste. Unser Elternhaus lassen wir hinter uns, von Lebenspartnern können wir uns trennen. Aber du, Benjamin, wirst immer da sein. Von den Eltern lernen wir, dass man die Hände artig auf den Tisch legt und schön Bitte-Danke sagt. Erst das Leben mit dem Bruder aber bringt dir bei, dass Bitte-Danke bei den meisten Problemen nicht hilft und man die Hände besser gleich zu Fäusten ballt. Der Bruder ist uns vertraut wie kein anderer Mensch und doch ein Rätsel. Er ist Komplize und Konkurrent in einem. All das sollte Benjamin einmal für mich werden. Doch als ich das e