: Franz Werfel
: Knut Beck
: Stern der Ungeborenen Ein Reiseroman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104002309
: Franz Werfel, Gesammelte Werke in Einzelbänden
: 1
: CHF 13,00
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 728
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Diesen umfangreichen Roman voller Traumvorstellungen, utopischer Phantasien über eine »astromentale« Welt hat Werfel im Frühjahr 1943 begonnen und am 24. August 1945, zwei Tage vor seinem Tod abgeschlossen. In drei Teilen berichtet er darin - nach dem Muster von Dantes ?Göttlicher Komödie? - von einer dreitägigen Reise im Jahr 1943 in philosophische Lokationen, in denen die Grenzen von Realität und Fiktion aufgehoben sind: Er bewegt sich in der Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Reisende »F. W.« projiziert unter der Führung seines wiedererstandenen ältesten und besten Freundes »B. H.« den geistigen und den politischen Zustand seiner realen Zeit und Gegenwart 1943 in die Welt der Astromentalen in utopischen Dimensionen. Dabei lernt er die eigene phantastische Vorstellungswelt als Bruchteil des Möglichen zu erkennen: in jenen fernen Zeiten leben die Menschen frei von Schmerz und Krankheit, Alter und Not, aber ohne Musik und Dichtung, jedoch auch ohne Arbeit. Zugleich findet er seine Hypothese aus der realen Gegenwart bestätigt, daß sie dann noch weiter von Gott entfernt sind, daß Hybris und Ranküne, Selbstüberhebung und Zwietracht der herrschenden Kräfte auch diese, die Jahrtausende spätere Welt zerrütten.

Am 10. September 1890 wird Franz Werfel in Prag geboren; als Schüler schreibt er Gedichte und entwirft Dramen. 1914 wird er zum Militärdienst eingezogen; 1917 begegnet er Alma Mahler-Gropius, mit der er bis zu seinem Lebensende verbunden bleibt; er siedelt nach Wien über. Zu dieser Zeit sind bereits mehrere Gedichtbände von ihm erschienen, hat er kritische Aufsätze veröffentlicht. 1919 folgt seine erste ganz eigenständige Novelle ?Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig?. 1921 wird sein Drama ?Spiegelmensch? aufgeführt. In den nächsten Jahren entstehen ?Der Tod des Kleinbürgers?, ?Kleine Verhältnisse?, ?Der Abituriententag?, ?Die Geschwister von Neapel? und immer wieder Gedichte. 1929 heiratet er Alma Mahler. 1933 erscheinen ?Die vierzig Tage des Musa Dagh? - eine Mahnung an die Menschlichkeit; im gleichen Jahr werden seine Bücher in Deutschland verbrannt. 1938, als Hitlers Truppen in Österreich einmarschieren, hält sich Werfel in Capri auf - seine Emigration beginnt. 1940 wird er in Paris an die Spitze der Auslieferungsliste der Deutschen gesetzt. Mit Alma und einigen Freunden flüchtet er zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien. ?Das Lied von Bernadette? schreibt er als Dank für seine Errettung. Von Lissabon bringt sie ein Schiff nach New York. Die letzten Jahre verlebt Werfel in Los Angeles, Kalifornien. Am 26. August 1945 erliegt er seinem schweren Herzleiden.

Erstes Kapitel


Worin sich ein Vorwort verbirgt, das, wie so oft, nur eine Ausrede ist.

Dies hier ist ein Erstes Kapitel, welches verhindern soll, daß vorliegendes Werkchen mit einem Zweiten Kapitel beginne. Dem Entschlusse, auf das Anfangsblatt eines Romans setzen zu lassen: »Zweites Kapitel« stand nichts andres im Wege als der Ordnungssinn des Verlegers, die bekannte Entdeckerlust des lesenden Publikums an faustdicken Druckfehlern und endlich die Originalitätssucht des Verfassers, der befürchtete, irgendein Kollege aus der foppfreudigen Epoche der Romantik habe gewiß schon einmal eines seiner verwilderten Werke mit dem Zweiten Kapitel eröffnet. Fangen wir darum mit dem Ersten Kapitel an, so überflüssig dasselbe für den Gang der Handlung oder, genauer gesagt, Forschung, auch sein mag. Da es sich um eine Art von Reisebericht handelt, fühle ich die Verpflichtung, den Helden, oder bescheidener, den Mittelpunkt der hier geschilderten Begebenheiten vorzustellen. Es ist einmal die Schwäche dieser literarischen Form, daß in ihr das Auge, das sieht, das Ohr, das hört, der Geist, der begreift, die Stimme, die berichtet, das Ich, das in viele Abenteuer verwickelt wird, den Mittelpunkt bilden, um den sich alles im wörtlichen Sinne »dreht«. Dieser Mittelpunkt, der aufrichtigerweise F. W. benannt ist, bin leider ich selbst. Ich hätte es aus angeborener Unlust, in Schwierigkeiten zu geraten, lieber vermieden, auf diesen Blättern ich selbst zu sein, aber es war nicht nur der natürliche, sondern der einzige Weg, und ich konnte leider keinen »Er« finden, der mir zulänglicher Weise die Last des »Ich« abgenommen hätte. So ist also das Ich in dieser Geschichte ebensowenig ein trügerisches, romanhaftes, angenommenes, fiktives Ich wie diese Geschichte selbst eine bloße Ausgeburt spekulierender Einbildungskraft ist. Sie hat sich mir, wie ich gestehn muß, wider Willen begeben. Ohne vorher im geringsten benachrichtigt oder ausgerüstet zu sein, wurde ich, gegen alle sonstige Gepflogenheit, als Forschungsreisender ausgesandt, eines Nachts. Was ich erlebte, habe ich wirklich erlebt. Ich bin gerne bereit, mit jedem philosophisch gewandten Leser eine ehrliche Diskussion über dieses Wörtchen »wirklich« abzuführen, und ich maße mir an, auf jeden Fall recht zu behalten.

Während ich dies niederschreibe, lebe ich noch immer und schon wieder. Genau in dem Raume zwischen diesem »Noch immer« und »Schon wieder« liegt die Welt meiner Entdeckungsreise oder Forscherfahrt, die ich als Unwissender, ja als widerstrebender Tourist begann, um sie, wie ich hoffe, als scharfer Beobachter mit einigen neuen und sicheren Erkenntnissen im Sack zu beenden. Es wäre zweifellos ein Fehler des Lesers, das Buch schon in diesem Stadium ärgerlich zuzuklappen. »Noch immer« und »Schon wieder«, das sind so die Dunkelheiten und Rätsel eines Ersten Kapitels, welche das Zweite Kapitel bereits zu lösen haben wird.

Um allen groben Mißverständnissen vorzubeugen: ich bin durchaus kein Meisterträumer. Ich träume nicht lebhafter als andre Leute. Ich pflege am Morgen zumeist meine Träume vergessen zu haben. Oft bleiben freilich, als Strandgut der Nacht, in der grauen Frühe ein paar merkwürdige Bilder und Szenen zurück. Da gibt es zum Beispiel einen Hund, der mit mir in verständigen Worten spricht. Eine leuchtende Braut im Brautschleier, die ich nie gesehn habe, tritt mit ausgebreiteten Armen an mein Bett. Ein Mann mit Vollbart und blauer Schürze, den man den »Arbeiter« nennt, setzt Wasserkünste in Gang, die jedoch nicht aus Wasser, sondern aus absonderlichen Lichtstrahlen bestehen. Oder ich sehe mit unbeschreiblicher Deutlichkeit greise Männer, die anstatt zu sterben immer kleiner werden, immer winziger, und zuletzt als menschenförmige Rübchen in der Erde stecken. Solche Bilder und Szenen sind – wenn das Gedächtnis sie nicht ausstößt – wie eigenwillige Keime, die sich im Geiste während des Tageslebens wachsend weiterentwickeln, willst du oder willst du nicht. Selten, und doch ein paarmal im Leben geschieht es, daß diese selbständigen, vom erfinderischen Willen unabhängigen Gesichte während einer einzigen Nacht oder sogar in mehreren Nächten nacheinander logische Ketten und epische Reihen bilden, und man muß dann schon ein bracher Tropf sein, um nicht angeschauert zu werden von den sinnvollen Spielen, die unsre Seele hinter unserm Rücken aufführt, als wäre sie nicht ein beschränktes Ich, sondern ein grenzenloses All.

Es gibt nur zwei Wege, um ein Historiker der Zukunft zu werden: wissenschaftliche Folgerung und Traumdeuterei oder Wahrsagerei. Die wissenschaftliche Folgerung dürfte sich durch wissenschaftliche Folgerung von der Erkenntnis der Zukunft selbst ausschließen. Die Wissenschaft nämlich muß stets auf der Hut sein, aus sich eine Närrin zu machen. Sie bringt es höchstens zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Traumdeuterei und Weissagung hingegen haben den unschätzbaren Vorteil, auf eine uralte Praxis zurückzublicken, die der unanzweifelbaren Überlieferung gemäß namhafte Erfolge aufzuweisen hat. Die prophetischen Erkenntnisarten müssen es nur verstehen, um echt zu sein, die Schleier des Gleichnisses zu tragen und die Schatten des Geheimnisses zu werfen.

Streng