: Franz Werfel
: Höret die Stimme Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104001739
: Franz Werfel, Gesammelte Werke in Einzelbänden
: 1
: CHF 13.00
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 640
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dies ist die Geschichte Jirmijahs aus Anathot, des Propheten Jeremias also, aber es ist zugleich ein Meneteckel, ein Mahnwort gegen alle unverantwortlich herrschende Gewalt. Franz Werfel hat den Roman vom Leben und Leiden des großen Propheten eingebettet in eine Rahmenhandlung aus der Zeit der Entstehung des Romans, 1936, und ihn damit weit über das religiöse Thema hinausgehoben; er hat - der als Imperativ wirkende Titel verdeutlicht das - in einer Zeit totalitärer Herrschaft in Deutschland einen verschlüsselten Aufruf verfaßt, Widerstand zu leisten, aufzubegehren gegen die Staatsgewalt, gegen Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit der Mächtigen. So gesehen wird der Nebukadnezar des Romans leicht mit Adolf Hitler vergleichbar, werden die Leiden Jeremias' als die der Juden Deutschlands verstanden, wird die Zerstörung Jerusalems und des Tempels 586 v. Chr. als apokalyptisches Bild für die Zukunft Europas zur Zeit des Nationalsozialismus erkennbar. Werfel reagierte mit diesem Bekenntnis aber auch zugleich auf Vorwürfe gegenüber seiner, des Juden, offen geäußerter Sympathie für das katholische Christentum wie gegenüber der Tatsache, daß er zu den Aktivitäten der neuen Machthaber in Deutschland lange geschwiegen hatte.

Am 10. September 1890 wird Franz Werfel in Prag geboren; als Schüler schreibt er Gedichte und entwirft Dramen. 1914 wird er zum Militärdienst eingezogen; 1917 begegnet er Alma Mahler-Gropius, mit der er bis zu seinem Lebensende verbunden bleibt; er siedelt nach Wien über. Zu dieser Zeit sind bereits mehrere Gedichtbände von ihm erschienen, hat er kritische Aufsätze veröffentlicht. 1919 folgt seine erste ganz eigenständige Novelle ?Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig?. 1921 wird sein Drama ?Spiegelmensch? aufgeführt. In den nächsten Jahren entstehen ?Der Tod des Kleinbürgers?, ?Kleine Verhältnisse?, ?Der Abituriententag?, ?Die Geschwister von Neapel? und immer wieder Gedichte. 1929 heiratet er Alma Mahler. 1933 erscheinen ?Die vierzig Tage des Musa Dagh? - eine Mahnung an die Menschlichkeit; im gleichen Jahr werden seine Bücher in Deutschland verbrannt. 1938, als Hitlers Truppen in Österreich einmarschieren, hält sich Werfel in Capri auf - seine Emigration beginnt. 1940 wird er in Paris an die Spitze der Auslieferungsliste der Deutschen gesetzt. Mit Alma und einigen Freunden flüchtet er zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien. ?Das Lied von Bernadette? schreibt er als Dank für seine Errettung. Von Lissabon bringt sie ein Schiff nach New York. Die letzten Jahre verlebt Werfel in Los Angeles, Kalifornien. Am 26. August 1945 erliegt er seinem schweren Herzleiden.

Zweites KapitelEine Fahrt nach Jerusalem


Major Shepston besaß einen ziemlich geräumigen Wagen. Da er von seiner Verwundung im Kriege eine Schwäche des rechten Armes zurückbehalten hatte, konnte er ihn nicht selbst führen. Clayton Jeeves hatte schon bei der Morgenfahrt den Wunsch ausgesprochen, vorne beim Lenker zu sitzen. Auch jetzt wählte er, ohne erst zu fragen, denselben Platz. Dorothy Cowell, Cartwright, Burton und der Major konnten daher den durch die Glasscheibe von ihnen Abgesonderten ruhig zum Gegenstand ihres Gespräches machen, ohne von ihm gehört zu werden. Wer weiß aber, ob Jeeves sie gehört hätte, wäre er selbst unter ihnen gesessen. Seine gepeinigte Seele war in ein wirres Selbstgespräch verloren. Die drei Herren wußten von Clayton Jeeves so gut wie gar nichts. Sie hatten ihn ja erst vor wenigen Tagen durch Dorothy Cowell kennengelernt, die sich seiner mütterlich anzunehmen schien. Übrigens war ihr gestern die ehrerbietige Bemerkung entfallen, daß sie in Jeeves nicht nur einen hochbegabten Schriftsteller, sondern einen echten Dichter sehe, wenngleich sich dieses Urteil nur auf ganz spärliche Veröffentlichungen stützen könne. Professor Cartwright und Major Shepston hatten sofort wie zur Abwehr eingestanden, daß sie nicht die geringste schöngeistige Ader besäßen. Burton las zwar mit Vorliebe Gedichte, begnügte sich aber als Altertumsnarr und Ästhet, der er war, mit den Versen von Pindar bis Swinburne und hätte es für eine entehrende Zumutung gehalten, in der neuen oder gar neuesten Literatur bewandert zu sein. Doch nicht die schriftstellerische Begabung war es, die das Interesse der Männer an Clayton Jeeves erweckte. Sein von innen her verschattetes Gesicht, das unmögliche Schweigen heute, dieses eingesponnene Dasitzen, das sich, ohne feindselig zu sein, scharf distanzierte, kurz die beunruhigende Gesamtwirkung seiner Person zwang sie jetzt, aus der gebotenen Reserve ihrer Erziehung zu treten und ganz gegen Art und Gewohnheit Fragen über diesen Fremdling an Dorothy Cowell zu richten. Selbstverständlich war es Burton, der den beiden Älteren die Rolle des Neugierigen abnahm. Es entspann sich also um die Person Jeeves’ ein sonderbares Quintett, in dem er selbst, wenn auch nur als inneren Monolog, die führende Stimme entwickelte. Der Motor, der gewaltige Steigungen zu überwinden hatte, heulte dazu einen wehen Cantus firmus. Und die tragische Öde der Wüste Judäa mit ihren rot- und braungetönten Steinrunzeln, Felswunden, Kanten und Schluchten, ein äußeres Abbild innerer Zerrissenheit, zog als bedeutsame Begleitung vorbei.

Die Wiedergabe eines Selbstgespräches bleibt stets mit einer gewissen Unwahrhaftigkeit verbunden. Der Mensch redet sich selbst weder mit »ich« noch mit »du« an. Der Träger des inneren Lebens ist weder der Gedanke noch das Wort, obgleich auch diese beiden am inneren Leben mitwirken. Lange noch bevor die Seele ihre Spannungen in Sprache umbildet, erleidet sie die unabsehbare Flucht der Bilder. Und auch die Bilder sind bei weitem noch nicht die letzte Schicht der sinnenden Innerlichkeit. Man könnte in der Tat an einen mentalen Stoff, gleich Cartwrights Akâsha, glauben, an ein zartes Grundgewebe, auf dem die Bilder und Vorstellungen des Seelenlebens sich entwickeln. Cartwright aber und die andern im Fond des Wagens dachten jetzt nicht mehr an Akâsha noch auch an jene Gespräche, die der Anblick einer Landschaft aus ihnen hervorgelockt hatte, die an der Grenzmark zwischen Hier und Dort zu liegen scheint. Mit der geistigen Wandlungskraft weltgewandter Leute hatten sie die Metaphysik abgeschüttelt und saßen trockenen Verstandes da. Jeeves allein konnte sich von der Nachwirkung der Gespräche am Toten Meer, denen er die Teilnahme verweigert hatte, noch nicht befreien. Regungslos verharrte er neben dem Wagenführer und blickte geradeaus in Land und Wüste Judäa.

Ich bin krank – mit dieser Einsicht begann der Ablauf seiner Selbstbesinnung –, ich war immer krank, von Kindheit an, aber die Art der Krankheit verstehe ich erst seit gestern, seit meinem Besuch bei dem Nervenarzt in Jerusalem … Wäre ich übrigens ein Hypochonder, ja nur ein gewöhnlicher Kranker, so hätte ich nicht als dreiunddreißigjähriger Mensch gestern zum erstenmal meine Zustände einem Arzte gebeichtet … Mit meiner Mutter habe ich niemals darüber gesprochen … Und Leonora gegenüber habe ich erst kurze Zeit vor ihrem Tode eine Andeutung gemacht … (Merkwürdig, ich gab ihr, als wir uns verlobten, den Namen Leonora, und jetzt als Tote scheint sie vor mir in ihren alten Namen Mildred zurückzuweichen&nb