: Franz Werfel
: Verdi Roman der Oper
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104002316
: Franz Werfel, Gesammelte Werke in Einzelbänden (Taschenbuchausgabe)
: 1
: CHF 10.00
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Das Geschehen in diesem figurenreichen Roman ist fiktiv. Werfel läßt Giuseppe Verdi 1883 zur Karnevalszeit in Venedig sein, wo sich auch gerade sein künstlerischer Gegenpol Richard Wagner aufhält. Dieser eben war es, der ihn bereits zehn Jahre zuvor in tiefe Schaffenskrise gestürzt hat: Verdi empfindet seine Musik im Gegensatz zu der Wagners als veraltet - der Erfolg Wagners bei der Jugend scheint ihm recht zu geben. Den Antipoden zur gleichen Zeit am gleichen Ort zu wissen, vertieft Verdis Krise noch: in einem inneren Monolog ruft er sich die eigenen Lebens- und Schaffensstufen zurück, steigert sich in Verzweiflung, fällt in Ohmacht - als er daraus erwacht, ist er entschlossen, Wagner zu treffen, doch dieser ist in der Nacht zuvor gestorben. Diese Haupthandlung wird durch eine Fülle von Nebenfiguren belebt, die alle wichtige Funktionen haben. So machen gerade seine konservativen Verehrer Verdi deutlich, wie unzeitgemäß seine Musik geworden ist; auf der anderen Seite lassen die Aussichten des deutschen Komponisten Fischböck, dessen Kompositionen noch über Wagners Kühnheiten hinausgehen, es ihm fraglich erscheinen, ob in der Zukunft melodische Musik wie seine überhaupt noch Interesse finden wird. Verdi findet Kraft zu sich selbst zurück und entwickelt seinen Altersstil: er schreibt den ?Othello?.

Am 10. September 1890 wird Franz Werfel in Prag geboren; als Schüler schreibt er Gedichte und entwirft Dramen. 1914 wird er zum Militärdienst eingezogen; 1917 begegnet er Alma Mahler-Gropius, mit der er bis zu seinem Lebensende verbunden bleibt; er siedelt nach Wien über. Zu dieser Zeit sind bereits mehrere Gedichtbände von ihm erschienen, hat er kritische Aufsätze veröffentlicht. 1919 folgt seine erste ganz eigenständige Novelle ?Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig?. 1921 wird sein Drama ?Spiegelmensch? aufgeführt. In den nächsten Jahren entstehen ?Der Tod des Kleinbürgers?, ?Kleine Verhältnisse?, ?Der Abituriententag?, ?Die Geschwister von Neapel? und immer wieder Gedichte. 1929 heiratet er Alma Mahler. 1933 erscheinen ?Die vierzig Tage des Musa Dagh? - eine Mahnung an die Menschlichkeit; im gleichen Jahr werden seine Bücher in Deutschland verbrannt. 1938, als Hitlers Truppen in Österreich einmarschieren, hält sich Werfel in Capri auf - seine Emigration beginnt. 1940 wird er in Paris an die Spitze der Auslieferungsliste der Deutschen gesetzt. Mit Alma und einigen Freunden flüchtet er zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien. ?Das Lied von Bernadette? schreibt er als Dank für seine Errettung. Von Lissabon bringt sie ein Schiff nach New York. Die letzten Jahre verlebt Werfel in Los Angeles, Kalifornien. Am 26. August 1945 erliegt er seinem schweren Herzleiden.

Erstes KapitelEin Konzert im Teatro la Fenice


Glockengeläute hatte unsere Gondeln zum Saal begleitet, in der Stille glitten wir zurück …

Aus Glasenapps Wagner-Biographie

Der unirdische Monddunst dieser lau-bezaubernden Weihnacht drang durch das Wasserportal des Fenicetheaters und verklärte die finstere Mündung des langen Ganges, der vorwärts zum erleuchteten Foyer führte. An der grünspanigen Mauer, unbewegt in der Schwärze des Kanals, ein wenig abseits von Treppe und Pflöcken, ruhten einige Gondeln entlang des Fondamento.

Die Ruderer, die zuerst meinten, es gebe eine Oper zu hören, und die ihren Herrschaften nachgeschlichen kamen, um durch einen Türspalt oder gar auf unbezahlten Stehplätzen den Gesang zu genießen, waren enttäuscht worden. Das Orchester da drinnen – alle Musiker in schwarzer Parade – machte eine endlose, langweilige Musik. Und diese Musik wurde vor nicht mehr als fünfzehn Menschen gelärmt. Wußte man nichts Besseres aufzuführen, jetzt, im Dezember, zur Zeit der Stagione?

Die Gondelführer saßen längst schon in einer der Tavernen auf dem Campo del Teatro. Einer von ihnen stand von Zeit zu Zeit immer auf, um nachzusehen, ob die Geschichte nicht schon zu Ende sei. Im übrigen waren sie nicht um Musik betrogen. In der offenen Tür der Nachbarschenke hatte ein Invalide in vergilbter vergessener Uniform Platz genommen und ein kleines Cello mit hohem Stachel zwischen die Knie gestemmt. Unter seinem Bogen beklagte dieses mittelalterliche Bettel-Instrument, das sich auf irgendeinem geheimnisvollen Wege in unsere Zeit verirrt hatte, sein trübes Schicksal. In der Taverne, wo die Wartenden lachten und stritten, produzierte sich ein Paar von Straßensängern: der Knabe mit seiner Mandoline und eine{12}blinde Alte mit schrecklichen Augenhöhlen und einer hell-stechenden Tenorstimme. Dazu kam, daß fast alle Leute, die über den Platz gingen, einen Melodieteil sangen, summten, grölten, pfiffen, daß liederliche Aufschreie, Rufe, Gelächter aus plötzlich sich öffnenden und zuschlagenden Türen brachen, und daß jede Viertelstunde von allen Türmen herab die in dieser Nacht heilig erregten Glockenfluten auf die Stadt Venedig stürzten.

Über dem Hauptportal des so großen, so reizenden Theaters, das in Blau und Gold das Wappen des singenden Schwanes schmückt, brannten die Gasflammen in den beiden gewaltigen Milchglaskugeln. Das goldene Gitter war halb geschlossen. Kein Betreßter stand davor, und auch die Kolporteure der Textbücher, die sonst wütend zu Beginn der Vorstellung und während der Pausen ihr »Libri dell’ opera! Libri dell’ opera!« der ungerührten Kirche gegenüber an den Kopf werfen, fehlten bei der heutigen Veranstaltung.

Das große Foyer mit seiner zu den Logengängen emporsteigenden Marmorfreitreppe strahlte in den vielfachen Lichtgraden der offenen, in Schalen und hinter Gitterkäfigen brennenden Flammen.

Übertriebenes Schlagschattendunkel war über die beiden Nischen geworfen, in denen rechts ein weißer Empireofen, links der gutmütig-höhnische Riesenkopf G. Rossinis (»von der Gesellschaft im Jahre1869 gestiftet«) die Dinge und Zeiten ertrugen.

Zwei Damen in höchster Eleganz, mit einem mantilleartigen Schleier über dem auffrisierten Kopf – als gelte es die Papstmesse zu besuchen –, standen verwirrt und unschlüssig im Raum. Oh, wie ruhig betraten sie sonst dieses Haus, wenn der erste Akt schon seinem Ende zuging, da Verspätung doch gute Manier der Vornehmen ist. Heute aber flüsterten sie erregt und pressiert miteinander, drängten sich gegenseitig vom Spiegel weg, zupften die Locken, tupften die Wangen, wiegten sich in den Hüften, und verschwanden, da niemand sie hinderte, ihre weitläufigen Röcke raffend, über die Treppen im ersten Stockwerk der Logen.

Jetzt war das feierlich-lichte Foyer ganz leer, das Büfett im{13}Hintergrund unbewacht, obwohl man darauf eine ziemliche Reihe von Champagnergläsern und einige Schüsseln mit glanzvoll ausgebotenen Speisen bemerken konnte. Deutlich durchfauchte das Gaslicht die tiefe Stille. Nur dann und wann drang durch die dickgepolsterten Türen des Saals das Tutti des Orchesters: einzelne grimmige Akkorde, wie wenn in einem Nebenraum ein unhörbares Gespräch plötzlich zum Streit wird und aufbegehrend trotzige Worte fallen.

Der lange Gang hingegen, der vom Vestibül des Theaters zum Canal la Fenice führt, war nur von drei Petroleumlampen über den Notausgängen erhellt. Er lief dunkel den Riesenkörper des Zuschauer- und Bühnensaals entlang, der wie ein Meerschiff im Dock zu hängen schien. Zwei kleine Stiegen führten zu Eingangstüren empor, aus deren runden Fensterchen das grünlich-gelbe Festlicht mit den Strahlen eines Sommernachmittags ins Dunkel lugte. Durch Gucklöcher konnte man auch die Konstruktion der Unterbühne betrachten, wo beim Schein einer abgeblendeten Laterne der Feuerwächter der apathischen Trauer seines