Das erste Kapitel
handelt von den Schwierigkeiten, einen neuen Tag zu beginnen, von Geschwisterliebe, von einem guten Tausch und einem ruhigen Vormittag.
Robi wachte auf. Punkt sechs Uhr. Wie jeden Tag. Im Zimmerüber ihm wohnte nämlich der Mann mit dem lautesten Wecker der Welt. Der Mann mit dem lautesten Wecker der Welt stand jeden Morgen um sechs Uhr auf, und wenn sein Wecker ratschte, wurde Robi munter. Robi hätte noch eine Stunde schlafen können. Im Winter, wenn es dunkel war, schlief er meistens wieder ein. Aber jetzt – es war Anfang Juni und die Sonne schien – gelang ihm das nicht.
Dabei war das eine völlig unnütze Stunde. Er durfte nicht aufstehen, denn seine Eltern und seine Schwester wollten noch schlafen. Robi dachte: Sonderbar, sehr sonderbar! Von dem Teufelswecker werden sie nicht munter. Aber wenn ich mir in aller Stille ein ordentliches Frühstück machen will, können sie nicht schlafen! Robi hätte sich gern einmal selbst ein gutes Frühstück zubereitet. So eines, wie es die Privatdetektive in den amerikanischen Kriminalromanen immer essen. Mit gebratenem Speck und Spiegeleiern und Orangensaft und Bohnenkaffee. Mit so einem Frühstück im Bauch kann man nämlich viel besser denken. Robis Mutter hätte das eigentlich wissen müssen, denn sie las an jedem Wochenende fünf Kriminalromane. Sie hätte erkennen müssen, dass nur ihr Honigbrot-Kakao-Frühstück an Robis mittelmäßigen Schulleistungen schuld war. Aber sie erkannte es natürlich nicht, und sooft es ihr Robi zu erklären versuchte, sagte sie:
»Ach was! Die Detektive duschen auch jeden Morgen eiskalt. Tust du das vielleicht? Dusch erst einmal kalt, dann kriegst du vielleicht ein Spiegelei von mir!«
Von Bohnenkaffee und Speck wollte sieüberhaupt nichts wissen, weil sie fand, dass Bohnenkaffee schädlich sei, und von Gebratenem-Speck-Geruch am Morgen wurde ihrübel. Sie hatte einen zarten Magen.
Robi seufzte tief, drehte sich auf den Rücken und begann sich wieder einmalüber die Holzlatten zuärgern. Das war nämlich so: Wenn Robi am Morgen aufwachte und die Augenöffnete, sah er nur Holzlatten und dahinter ein bisschen Matratzengradl. Denn er musste im Unterteil eines Stockbettes schlafen. Im Oberteil des Stockbettes schlief seine Schwester Ena. Ena war fünf Jahreälter als Robi. Robi hielt sie für die selbstsüchtigste, habgierigste Person der Welt. Es war ein Jammer, dass er in eine Familie mit so einer Tochter geboren worden war. Ena gönnte ihmüberhaupt nichts. Sie hatte den hübscheren Schreibtisch, den bequemeren Sessel, den breiteren Kasten und vor allem, sie hatte das Stockbettoberteil.
»Diese ewigen, blöden Holzlatten werden mich noch ganz verrückt machen!«, jammerte Robi jeden Abend beim Zubettgehen.
Ena sagte dann meistens grinsend:»Liebster Bruder, das ist nicht mehr möglich!«
Darauf rief Robi:»Du blödes Pferd, du!«
Und Ena dann:»Du unerzogener Bengel!«
Und Robi:»Du solltest Maxiröcke tragen. Deine Beine sind für Miniröcke viel zu hässlich!«
(Es war Robi zwar völlig gleichgültig, was und wie viel davon unter den Röcken seiner Schwester hervorschaute, aber er wusste, dass er sie damit am meistenärgern konnte.)
Ena schrie dann:»Ohrwaschelkönig!«
Damitärgerte sie Robi am meisten. Robis Ohren waren ziemlich groß und standen vom Kopf ab. Ena hatte genau solche Ohren, aber sie konnte die ihren hinter langen blonden Haaren verstecken.
Jedes Mal, wenn Enaüber Robis Ohren zu spotten begann, kam es zwischen den Geschwistern zu den ersten Tätlichkeiten, und wenn die Mutter ins Zimmer stürzte und drohte, das Taschengeld nicht auszuzahlen, war schon der schönste Boxkampf im Gange. Die Mutter versuchte dann, die Kämpfenden zu trennen. Oft musste sie den Vater zu Hilfe rufen; der mischte sich aber nicht mehr gern in den Streit seiner Kinder ein, seit ihm einmal ein von Ena nach Robi geschleuderter Zirkel an den Kopf gesaust war. Außerdem hätte er gern gewusst, ob seine große, kräftige Ena oder sein kleiner, geschickter Robi als Sieger aus den Geschwisterkämpfen hervorgehen würde. Doch die Mutter ließ das nicht zu. Sie hatte etwas gegen Geschwisterkämpfe.
Der Vater seufzte oft:»Die zwei Kinder vom Herrn Meierbauer, die streitenüberhaupt nicht.«
Und die Mutter sagte darauf:»Ach, hätten wir doch nur zwei liebe, süße, kleine Meierbauerkinder!«
Übrigens wusste jeder in der Familie Seifertiz, dass der Herr Meierbauer kinderlos war und nur zwei ewig bellende Dackel besaß.
Robi lag also wach undärgerte sichüber die Holzlatten und wartete, bis es sieben Uhr wurde. Punkt sieben lief er ins Badezimmer. Er drehte den Wasserhahn auf, schnitt dem Spiegel Gesichter, bekam versehentlich ein paar Wassertropfen ins Gesicht, erschrak darüber und drehte das Wasser sofort wieder ab. Da kam Robis Vater ins Badezimmer. Am Morgen war Robis Vater arm dran. Er war kein Morgenmensch. Er hätte seine komplette Briefmarkensammlung gegen zwei weitere Stunden Schlaf getauscht. Man konnte ihm ansehen, wie er litt, dass ihm jede Bewegung schwer fiel, dass er Mühe hatte, die Augen offen zu halten, und wie er das Gähnen unterdrückte. Robi dachte: Ausschauen tut der Herr Papa am Morgen wie das Gespenst von einem Gartenzwerg! Der Vater setzte sich auf den Rand der Badewanne und murmelte:»Guten Morgen, Herr Seifertiz!«
Dann rieb er sich die Augen und holte kleine graue Körner und gelbe, klebrige Wuzerln aus den Augenwinkeln. Während er gähnte u