Jean-Luc Papperin lernt eine schöne Frau kennen
Mitte Mai
„Mesdames et messieurs, jetzt kommen wir zum Höhepunkt des Tages, was sage ich, der gesamten diesjährigen Landwirtschaftsmesse: Der Verleihung der Preise– Gold, Silber und Bronze– für die besten Produkte der regionalen Olivenölproduzenten.“
Die Lautsprecher in der kommunalen Allzweckhalle von Brignoles dröhnten auf die dicht gedrängten Zuschauer herab. Vorne, am hell erleuchteten Rednerpult wischte sich der Präfekt desdépartements Var Schweißtropfen von der Stirne. Dann blickte er neben sich auf den langen, festlich geschmückten Tisch, an dem rund ein Dutzendältere Männer in dunklen Anzügen saßen.
„Die für die Auswahl der Preisträger verantwortliche Jury unter dem Vorsitz desprésident de la confrèrie des oleiculteurs de France setzt sich aus den führenden Kapazitäten der Republik zusammen, und zwar: Monsieur …“. Jetzt zählte er eine Reihe von Namen auf. Die Genannten erhoben sich und verbeugten sich hoheitsvoll unter demüberwältigenden Applaus des etwa tausendköpfigen Auditoriums.
„Für dieÜberreichung der Preise“, fuhr der Redner fort,„darf ich etwas ganz Besonderes ankündigen: Eine weitüber die Grenzen der Republik hinaus berühmte und beliebte Filmdiva ist eigens aus Paris angereist, um diesem Festakt besonderen Glanz zu verleihen. Begrüßen Sie mit mir unseren strahlenden Stern am Medienhimmel“– es folgte eine rhetorische Kunstpause–„Madame Nicole de Laterre!“
Die ländlich-pompöse Inszenierung erreichte ihren Höhepunkt. Die bunt uniformierten Mädchen der TanztruppeLes Mousquetaires du Val warfen ihre Beine in die Höhe und schwenkten ihre mit Federboas geschmückten Arme, begleitet vomCan Can der Kapelle derörtlichen Feuerwehr, dersapeurs-pompiers von Brignoles. Aller Augen richteten sich auf den Eingang zur Bühne, der von einem kunstvoll ausÖlbaumzweigen geflochtenen Schleier verhangen war. Jetzt teilte sich der silbriggrüne Blättervorhang und unter lautem Fanfarengeschmetter stieg eine schlanke junge Frau in einem bodenlangen weißen Satinkleid die Stufen zur Bühne herab.
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Die ersten zehn Reihen waren für die Olivenbauern und dieÖlmühlenbetreiber reserviert. Hier saß Jean-Luc Papperin mit seiner Mutter Odile. Gerüchten zufolge sollte dieAncienMoulinà Huile F. Papperin in Cabanosque dieses Jahr mit einer Medaille auf derfoire agricole, der Landwirtschaftsmesse in Brignoles, ausgezeichnet werden. DieÖlmühle wurde von der Familie Papperin bereits in der vierten Generation betrieben und jetzt von Jean-Lucs Mutter geführt.
Die forsche Musik dröhnte in Jean-Lucs Kopf, währenddessen schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit ab. Er schloss die Augen und sah vor sich, wie er als kleiner Junge seinem Vater beim Abfüllen des frisch gepresstenÖls half. Damals hatten sie noch keine Plastikkanister verwendet. Alles war aus Blech, teilweise hatten sie auch schon große, silbern glänzende Edelstahlbehälter. In einer Ecke des einzigen Raumes, in dem sich das ganze Geschehen abspielte–Ölmühle, Presse,Öltanks und Verkaufstheke– waren noch die alten Tongefäße ausgestellt, in denen früher dasÖl gelagert wurde. Damals zu Zeiten seiner Vorfahren. Aus dieser Zeit stammte auch das F. im Firmennamen. Es stand für Frédéric, den Vornamen seines Großvaters. Nach dessen Geburt im Jahr 1919 hatten Jean-Lucs Urgroßeltern ihn nach dem großen Provencedichter Frédéric Mistral genannt, der damals erst vor kurzem verstorben war. Er wurde und wird in der Provence verehrt, nicht nur, weil er die provenzalische Sprache für die Literatur wiederentdeckt hatte, sondern auch, weil er ein unermüdlicher Verfechter der kulturellen Unabhängigkeit der Provence gegenüber dem zentralistischen Frankreich war. Vor allem letzteres hatte Jean-Lucs heimatverbundenen Urgroßvater stark imponiert und war wohl der Grund für den Taufnamen– Frédéric– seines einzigen Sohnes. Jean-Luc, der seinen Großvater–papy Frédéric hatte er ihn genannt– noch gut in Erinnerung hatte, hörte in seinem inneren Ohr wieder die Stimme seines Opas. Ungezählte Male hatte ihm der alte Mann voller Stolz erzählt, wie sein Vater 1912 den verehrten Dichter zufällig getroffen, ihn angesprochen, und wie dieser ihm die Hand geschüttelt hatte. Sein Großvater hatte das mit so viel Inbrunst berichtet, dass man glauben konnte, er selbst, der damals ja noch gar nicht geboren war, und nicht sein Vater habe, diese Begegnung erlebt. Das großeÖlbild des Dichters Mistral hing auch jetzt noch in der Mühle. Nicht mehr in der alten Scheune, sondern im neuen hochmodern eingerichteten Verkaufsraum.
Was hatte es ihn– Jean-Luc– für Mühen gekostet, seine Mutter davon zuüberzeugen, das Geschäft zu vergrößern, den damals nicht genutzten Gebäudeflügel in derbastide, dem riesigen Landhaus, umzubauen, neue Produktionsanlagen anzuschaffen und von der Scheune in die neuen Räume umzuziehen. Die alten Geräte erfüllten nur noch museale, dekorative Zwecke und verliehen der ansonsten rational-kühl wirkenden Ausstattung ein rustikales und nostalgisches Flair. All das hatte er– damals schoncommissaire derpolice judiciaire in Paris– von dort aus organisiert.
Lautes Klatschen riss Jean-Luc aus seinen Erinnerungen. Er sah seine Mutter sich erheben und zögernd zum Podium gehen. Die Traumfrau im weißen Seidenkleid ging auf sie zu. In ihrer Hand glänzte und blitzte eine Goldmedaille im