: Inna Hartwich
: Friedas Enkel Meine Familie und das Erbe der Gewalt in Russland
: Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH
: 9783962511913
: 1
: CHF 15.30
:
: Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
: German
: 200
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Familie als Spiegel der russischen Gesellschaft Schweigen, Hinnehmen, Verdrängen - dieses Muster ist tief in der russischen Gesellschaft verankert. Auch Frieda verschwieg das Leid, das sie durch die Nationalsozialisten und die sowjetische Diktatur erfuhr. Das Erbe der Gewalt wird bis heute an die jüngeren Generationen weitergegeben, wie sich auch in Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt. Die Journalistin Inna Hartwich macht anhand der Biografie ihrer russlanddeutschen Großmutter Frieda das Unerzählte in Russland sichtbar und geht auf historische und ungehörte Perspektiven ein. Sie reist quer durchs Land, trifft Menschen mit den unterschiedlichsten Haltungen und zeigt, wie sich dieses durch Angst, Leid und Ignoranz selbst zerstört.

Inna Hartwich wurde 1980 in der Sowjetunion geboren, emigrierte 1992 nach Deutschland. Nach dem Studium ging sie 2010 als freie Korrespondentin nach Moskau. Später arbeitete sie aus Peking über Ostasien und aus Berlin über Polen, die Ukraine und Russland. 2018 kehrte sie als Korrespondentin nach Moskau zurück. Inna Hartwichs Reportagen und Essays über Russland sind mehrfach ausgezeichnet worden.

1Der Anfang


Die Sphinx auf dem Sofa


Es ist einer dieser Tage, an denen unsere Eltern meinen Bruder und mich zu den Großeltern bringen. Sie haben ein Haus, einen Garten, Holzscheunen, Apfelbäume zur Straße hin. Ich bin nicht gern da. Die Großmutter schreit, man dürfe die Äpfel nicht einfach so essen, auch wenn sie am Boden liegen. Sie schreit oft. Zum Essen stellt sie eine große Pfanne auf den Tisch, die Kartoffelpuffer triefen vor Fett. „Fresst“, sagt die Großmutter. Ich habe mich an das Wort längst gewöhnt, weiß, dass hier alles aufgegessen werden muss, egal wie. Die Großmutter sieht es nicht gern, wenn etwas übrig bleibt vom Essen. Ein „Es schmeckt mir nicht“ überhört sie jedes Mal. Ich verstehe nicht, warum. Ich esse die Kartoffelpuffer, den Speck, das mit Schmalz bestrichene Schwarzbrot. Ich esse und schweige und sage meinen Eltern immer wieder, dass ich dort nicht hinwill. „Es sind deine Großeltern“, sagen die Eltern und fahren mit uns wieder hin. Die Cousinen sind da, die Tanten, die Onkel. Sie sitzen am Tisch, sie lachen, manchmal streiten sie. Erwachsenenzeugs. Ich fahre mit meinem grünen Fahrrad die Straße am Haus der Großeltern entlang. Die grünen Äpfel lasse ich aus Unbehagen irgendwann unbeachtet im Garten liegen.

Bei den Großeltern muss alles erfragt werden. Darf ich das? Kann ich dies?