6. Kapitel
Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an die gespenstische Szenerie zu gewöhnen. Hatte Marla schon am Eingang der verlassenen Klinik den Eindruck gehabt, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte, war sie sich nun dessen sicher. Es sah aus, als hätte ein morbider Geist einem frisch vermählten Brautpaar das Schlafzimmer für die Hochzeitsnacht dekoriert. Die Fenster waren mit blickdichten, schwarzen Filzvorhängen komplett verdunkelt. Auf dem Fußboden brannten mindestens zwei Dutzend Teelichte. Rosenblüten markierten den Weg vom Eingang des ehemaligen Kreißsaals bis zu etwas, das wie eine Mischung aus Krankenbett,OP-Tisch und Zahnarztstuhl aussah.
Jetzt erst hörte Marla leise klassische Musik. Sie musste an Oma Margot denken, die das Air von Bach auch so liebte, doch ganz gewiss nicht in dieser entsetzlichen Umgebung.
Mit diesem verstörenden Anblick.
Denn auf dem, was vermutlich einst ein Entbindungsbett gewesen war, in dem junge Mütter in den Wehen gelegen hatten, lag nun …Es.
Marla wollte im ersten Moment nicht wahrhaben, dassEs ein Mensch war. Und keine Puppe, deren Kopf man mit einer milchigen Plastikfolie umwickelt hatte. Die Geräusche, dieEs auf einmal von sich gab, hätten alles sein können. Die eines gequälten Tieres. Oder eines sterbenden Menschen.
Doch dann gewöhnten sich ihre Augen an das flackernde Kerzenlicht, und sie sah die Beine, die in einer Anzughose steckten, wie ihr Vater sie getragen hatte. Sah die Lederschuhe, ähnlich jenen, mit denen er zur Arbeit gegangen war.
Edgar?
Nein, dafür war der Mann zu klein.
Und Edgar ist tot, oder etwa nicht?
Marla verspürte keine Angst. Sie stand unter Schock. Zitterte. Sehnte sich nach der Sonne und dem Tageslicht zurück, das die Kälte, die ihr Innerstes erfasst hatte, vertreiben mochte.
Sie sah sich um, entdeckte einen Schalter an der Wand, legte ihn um, und ein mattes Energiesparlicht verstärkte die unheimliche Atmosphäre. Sie beugte sich überEs. Und sah: Augen. Lippen. Aufgequollen. Durch die dicke Folie kaum sichtbar, aber ohne Zweifel menschlichen Ursprungs. Sie war nun sicher, dass da ein Mensch unter der Plane steckte, dem Erstickungstod so nahe wie Mr Grill dem Hitzschlag vor wenigen Minuten.
Unmöglich, dass man derart eingewickelt ausreichend Luft bekommen konnte, auch wenn der Unbekannte es versuchte.
Herr im Himmel, er stirbt …
Der Brustkorb des Opfers hob und senkte sich in einer hyperventilierenden Frequenz. Sie versuchte, die Plane von dem Kopf zu lösen, und merkte, dass es in Wahrheit ein Sack war, den das Opfer mit jedem krampfhaften Atemzug über sein Gesicht saugte. Der Planen-Sack war mit einem Zipper am Hals zugezogen. So fest, dass Marla ihn mit bloßen Händen nicht lösen konnte.
Marla drehte sich um und trat dabei mit dem Fuß einige Teelichte um. Sie entdeckte einen Instrumentenschrank und zwei Kommoden an der Wand. Riss alles auf, jede Schranktür, jede Schublade, doch sie waren leer, wie Attrappen. Kein Skalpell, kein Messer, mit dem sie die Plane hätte aufstechen können.
Sie überlegte, ob sie mit einer Kerze die Folie vor dem Mund des Opfers aufschmelzen sollte, aber wenn das nicht zu grausamen Verbrennungen führte, dann vermutlich zu tödlichen Vergiftungen.
Nichts, hier gibt es nichts, dachte sie,außer …
Das Paket!
Natürlich.
Der Psycho, der das eingefädelt hatte, musste sie ja aus einem Grund hierhergelotst haben. Marla rutschte auf den Rosenblättern aus, als sie zur Tür zurückhastete, dort, wo sie vor Schreck das Päckchen hatte fallen lassen.
Kurz hielt sie inne.
Wie spät war es?
19:47 Uhr.
Das Paket sollte nicht vor19:49 Uhr geöffnet werden. Und dann auch nur von einer Frau Hansen.
Was, wenn etwas Schlimmes passierte, sollte sie sich nicht daran halten?
»Völlig egal!«, schrie sie sich selbst an.
Was gab es Schlimmeres alsdas hier?
Eilig riss sie die Pappe auf und schrie vor Verzweiflung, als sie tatsächlich nur einen nutzlosen Stein darin fand. Ansonsten war es leer, bis auf …
Ein Brief?
Er war sehr lang, im Schummerlicht nur schlecht lesbar und ohnehin komplett nutzlos. Die handbeschriebenen Seiten würden das Leben dieses Menschen hier ebenso wenig retten können wie der Gegenstand, der klirrend auf den Boden gefallen war, als sie das Paket umgedreht und geschüttelt hatte in der Hoffnung, doch noch etwas übersehen zu haben.
Marla bückte sich und griff nach einem Bund mit zackenlosen Schlüsseln.
Was soll ich damit?
Hier gab es keine Türen, Schränke oder abgeschlossenen Tische. Nur einen kleinen Kasten an der Wand.
Es war ein Schockgeber. Auch als Defibrillator bekannt.
Ein blaues Gerät, so groß wie ein Kinderkassettenrekorder, mit Tragegriff und Display, das tatsächlich noch funktionierte, als sie panisch draufpatschte.
Folgen Sie den Anweisungen auf dem Bildschirm, leuchtete auf. An dem Defi hingen zwei handtellergroße Kellen, mit denen der Strom in den Brustkorb geleitet wurde. Marla starrte sie hilflos an.
Was mache ich jetzt nur?
Der Mann (in Gedanken ging sie von einem männlichen Opfer aus)ist doch noch gar nich