Von der Muße
An Serenus
1. Massengeselligkeit ist durch die Wucht der Einstimmigkeit für uns eine Schule der Fehler. Mögen wir auch sonst nichts für unser Seelenheil tun, die Abgeschiedenheit ist doch an und für sich schon von Nutzen: Wir werden uns bessern, wenn wir vereinzelt sind. Können wir uns doch beschränken auf den Umgang mit den trefflichsten Männern und uns ein Muster auserwählen, nach dem wir uns in unserer Lebensführung richten, eine Möglichkeit, die uns nur durch die Abgeschiedenheit vom Geschäftsleben gewährt wird. Nur dann kann man sich das zu eigen machen, was einmal unseren Beifall gefunden hat, wenn sich niemand dazwischen schiebt, der unser noch nicht zum festen Grundsatz gewordenes Urteil unter Beihilfe des großen Haufens in andere Bahnen lenkt; dann kann das Leben in gleichmäßigem und einheitlichem Zuge fortschreiten, das wir gemeinhin durch die sich widersprechendsten Vorsätze in Zwiespalt mit sich bringen; denn unter den sonstigen Übeln ist dies das schlimmste, dass wir mit den Fehlern selbst wechseln. So entgeht uns selbst der immerhin verhältnismäßige Vorteil, bei einem uns schon vertraut gewordenen Übel zu bleiben. Bald gefällt uns dies, bald wieder jenes, weil unser Urteil nicht nur verkehrt, sondern auch jedem Windzug preisgegeben ist: Den Wogen gleich schwanken wir hin und her und greifen bald nach diesem, bald wieder nach jenem; was wir gesucht, geben wir auf, und das Aufgegebene suchen wir wieder; es ist ein beständiger Wechsel von Begierde und Reue. Denn wir hängen ganz ab von dem Urteil anderer, und das Beste in unseren Augen ist das, was recht zahlreiche Bewerber und Lobredner hat, nicht das, was lobwürdig und erstrebenswert ist, wie denn unser Urteil über Tauglichkeit und Untauglichkeit des Weges sich nicht bestimmt nach dessen tatsächlicher Beschaffenheit, sondern nach der Menge der Fußspuren, von denen keine nach rückwärts weisen.
Du wirst mir erwidern: »Was fällt dir ein, Seneca? Du trennst dich von deiner Partei? Behauptet ihr Stoiker doch sonst aufs Bestimmteste: ›Bis zum letzten Lebenshauch werden wir tätig sein, werden nicht ablassen, für das Gemeinwohl zu arbeiten, den Einzelnen beizustehen, selbst den Feinden hilfreich zu sein mit lindernder Hand. Wir sind’s, die keinem Alter die Arbeit ersparen und die, nach dem Worte des redegewaltigen Dichters,
»drücken des Greisen Haupt mit dem Helm«.
Wir sind’s, bei denen es vor dem Tode nichts gibt, was nach Müßiggang aussieht, ja bei denen, wenn irgend möglich, sogar der Tod selbst jeden Gedanken an Müßiggang abweist‹. Was kommst du uns mit den Lehren Epikurs mitten unter den Grundsätzen Zenons? Warum gehst du nicht frisch und frank, wenn dir deine Partei nicht mehr behagt, zu den Gegnern über, statt an ihr zum Verräter zu werden?«
Darauf erwidere ich dir zunächst: »Forder