: Veikko Bartel
: Mörder Fälle aus der Praxis eines Strafverteidigers
: Mosaik bei Goldmann
: 9783641225629
: 1
: CHF 12.50
:
: Gesellschaft
: German
: 256
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wer in gut 40 Tötungsfällen vor Gericht verteidigt hat, weiß, was Männer dazu bringt, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. In seinem zweiten Buch »Mörder« zeigt Strafverteidiger Veikko Bartel die männliche Seite des Tötens und schildert die sechs spektakulärsten Fälle. Er erzählt mitreißend von den Hintergründen, den seelischen Untiefen und den biographischen Tragödien, die sich hinter den Taten verbergen. Einmal mehr stellt der Autor die Frage nach Gerechtigkeit und beweist mit jeder Geschichte: Kein Krimi ist so spannend wie die Realität.

Veikko Bartel, geboren 1966 in Karl-Marx-Stadt (DDR), studierte nach der Wiedervereinigung Jura und arbeitete von 1996 bis 2011 als Rechtsanwalt in Potsdam, ab 1998 als Strafverteidiger. Heute ist er Dozent für Steuerrecht. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Pirche ist mit seinen knapp fünfzig Lebensjahren ein gebrochener Mann. Teilnahmslos hat er die zehn Verhandlungstage im Gericht gesessen, kaum wahrgenommen, was da um ihn herum geschah. Nur einmal blickte er auf, als seine jüngere Tochter als Zeugin vernommen wurde, als er das Wort »Papa« in ihrer unverwechselbar weichen Stimme hörte. Niemals, absolut niemals wird er begreifen können, was er an diesem sonnigen Dienstag getan hatte.

Heute, an diesem letzten Verhandlungstag, soll das Urteil gesprochen werden. Ob Gefängnis oder nicht, ob zehn Jahre, fünfzehn Jahre oder gar lebenslänglich, das macht für ihn nicht den geringsten Unterschied. Sein Leben ist ohnehin vorbei. Wenn er doch wenigstens den Mut finden könnte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Aber den hat er nicht. Er fürchtet sich vor den Schmerzen, er fürchtet sich vor diesen letzten Minuten, diesem endgültigen Moment der Einsamkeit, in dem das Leben den Körper verlässt, er fürchtet sich vor der Stille des Todes. Aber am meisten fürchtet er sich vor dem Danach, vor Gott zu stehen und sich rechtfertigen zu müssen. Für das, was er getan hat.

Das Gericht betritt den Saal. Er quält sich aus dem Stuhl. Die Anspannung aller anderen in diesem Gerichtssaal bemerkt Pirche nicht. Er schaut nur geradeaus, ins Nirgendwo. Wie jeden Tag seit besagtem Dienstag vor nunmehr fast acht Monaten. Auch jetzt, in diesem ganz besonderen Augenblick, an dem der Vorsitzende Richter mit den Worten »Im Namen des Volkes verkünde ich folgendes Urteil …« zu sprechen beginnt, hat er die Bilder vor Augen. Nie einen vollständigen Film. Nur Fragmente, Bewegungen in Zeitlupe. Aber vor allem hat er immer und immer wieder den Geruch von frischem, warmem, pulsierendem Blut in der Nase. So als säße er noch immer in seinem Wohnzimmer, seine tote Frau im Arm haltend. Die letzten Worte seiner Frau, von denen er niemals gedacht hätte, sie sei in der Lage, solche auszusprechen, sind permanent präsent. Ohne Pause hämmern sie durch seine Gedanken. Er ist derart in der Welt jenes Dienstags verhaftet, dass er das ihn freisprechende Urteil, die anschließenden Tumulte im Verhandlungssaal, das entsetzte, wütende Aufschreien seiner ältesten Tochter, den Freudenschrei seiner jüngsten nicht mitbekommt. Er registriert nicht, dass der Vorsitzende Richter von einem ganz besonderen, ja vielleicht einmaligen Fall spricht; davon, dass das Gericht sehr lange und kontrovers darüber beraten habe, welchem forensisch-psychiatrischen Sachverständigengutachten es folgt, und schlussendlich dem von der Verteidigung eingebrachten den Vorzug gab; und man auf Grundlage dieses Gutachtens nicht ausschließen könne, dass Pirche zum Zeitpunkt der Begehung dieses Doppelmordes schuldunfähig war und deshalb nicht bestraft werden könne.

»Herr Pirche«, der Vorsitzende Richter spricht ihn an.

Galt das jetzt ihm? Der Vorsitzende ruft den Namen noch ein zweites Mal. Erst beim vierten Versuch wird Pirche aus seiner Gedankenwelt gerissen und blickt zur Richterbank auf.

»Herr Pirche, machen Sie Ihren Frieden mit dem Geschehenen. Wenn Sie weiterleben wollen, müssen Sie Ihren Frieden damit machen und sich selbst verzeihen. Ob das überhaupt möglich sein wird? Ich weiß es nicht. Aber versuchen Sie es, Herr Pirche, ver