Die Schlacht um den Nieuwmarkt
Amsterdam,1912. Wenn die Schlacht um den Nieuwmarkt anders ausgegangen wäre, hätte es die Familie Brilleslijper wahrscheinlich nicht gegeben. Dort, auf dem Platz im jüdischen Viertel, dem sogenannten Jodenhoek, zu Füßen des jahrhundertealten Stadttors De Waag, kämpft Joseph Brilleslijper um die Hand von Fijtje Gerritse.
Ihre Familien könnten gegensätzlicher nicht sein: Joseph stammt aus einem Zirkusgeschlecht von umherziehenden, jiddisch sprechenden Musikern, und obwohl sein Vater mittlerweile beruflich Obst importiert, sind für den Haushalt Brilleslijper noch immer die ausschweifenden Freitagabende zu Hause in der Jodenbreestraat typisch, wenn sich alle Familienmitglieder versammeln, um zu musizieren und Theater zu spielen. Fijtje Gerritse hingegen stammt aus einer Familie frommer friesischer Juden, alle groß und eher mürrisch, alle mit rotblondem Haar, die ihre sechs Kinder mit eiserner Disziplin inmitten der Gottlosigkeit des Amsterdamer Zeedijk erziehen, in dem sich Hafenarbeiter, Huren und Seemänner tummeln. Schon in jungen Jahren arbeitete Fijtje dort im Geschäft ihrer Eltern, das abends geöffnet war. Sie stand auf einer Kiste hinter der Kasse, neben sich die drei Brüder als Rausschmeißer. Sie ist bis über beide Ohren in den immer zum Lachen aufgelegten Joseph Brilleslijper verliebt, aber ihre Eltern wollen von dem jungen Kerl nichts wissen: ein Nichtsnutz ohne Beruf, der bei jeder Gelegenheit abhaut, um seinen umherziehenden Zirkusgroßvater zu besuchen.
Nachdem Joseph sich von den drei Gerritse-Brüdern wiederholt eine heftige Abreibung eingefangen hat, als er bei Fijtjes Eltern um ihre Hand anhalten wollte, ja von ihnen sogar aus dem Haus gejagt wurde, wobei sein Gesicht unsanft auf dem Pflaster landete, weiß er, dass er nur noch eine Chance hat. Er fordert die ungeschlagenen Riesen des Zeedijk-Viertels auf, von ihrem Thron herabzusteigen, sodass er der Familie Gerritse ein für alle Mal zeigen kann, zu was er imstande ist. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Ruben trommelt er einige Freunde aus der Jodenbreestraat und den Joden Houttuinen zusammen. Darunter ist ein Junge namens Stummer Öpie, der noch nie ein Wort gesagt hat, der aber so bärenstark ist, dass niemand es auch nur wagt, laut ein Wort darüber zu verlieren. Mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Kiefern halten sie auf De Waag zu. Vor der Fischhalle auf dem Nieuwmarkt kommt es zu einem spektakulären Faustkampf, und zum ersten Mal in ihrem Leben werden die Brüder Gerritse in die Knie gezwungen. Joseph wischt sich das Blut von den Fingerknöcheln, holt seine »Fietje« im Laden ihrer Eltern ab und zieht mit ihr bei Ruben und dessen Frau ein. Ob es nun ein taktisches Kunststück, brutale Gewalt oder Glück war: Der Sieg ist das Startzeichen eines liebevollen Zusammenlebens. Sie heiraten am1. Mai1912 und Josephs Vater organisiert ein Häuschen für das junge Paar im ärmlichsten Teil des Jodenhoek. Dort bei den Joden Houttuinen, auf der Ecke zum Uilenburgersteeg, erblickt am13. Dezember1912 ihr erstes Kind, Rebekka »Lientje« Brilleslijper das Licht der Welt.
Die Familie ist arm, aber glücklich. Nach ein paar mageren Jahren können sie mit Hilfe von Josephs Vater, Opa Jaap, einen Laden in der Nieuwe Kerkstraat übernehmen. Mit der kleinen Lien ziehen sie über dem Geschäft ein. Fietje arbeitet Tag und Nacht im Laden, während Joseph als Arbeiter im Großhandel von Opa Jaap hilft. Es dauert noch vier Jahre, bevor das Ehepaar Gerritse von Zeedijk aus von ihnen nur getrennt durch den Waterlooplein und den Nieu