: Jutta Hajek
: Siehst du die Grenzen nicht, können sie dich nicht aufhalten Eine blinde Familie beweist, dass man jedes Hindernis überwinden kann.
: bene! eBook
: 9783963400766
: 1
: CHF 8.00
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Jutta Hajek erzählt die wahre bewegende Geschichte einer blinden Familie, die der lebende Beweis dafür ist, dass man jedes Hindernis im Leben bewältigen kann - mit starkem Willen und Gottvertrauen. Maria Müller ist bei ihrer Geburt fast blind. Als während des Zweiten Weltkriegs zwei Männer der Gestapo zum Hof der Familie kommen, um sie abzuholen, kann sie gerade noch fliehen. So entgeht sie dem Schicksal vieler anderer Menschen mit einer Behinderung oder einer psychischen Erkrankung, die nach Hadamar gebracht und dort ermordet werden, weil ihr Leben als »unwert« gilt. Marias Einschränkung hält sie nicht davon ab, sich ins Leben zu stürzen: In der Handelsschule verstößt sie gegen sämtliche Regeln, bekommt trotzdem ihren Abschluss, ergattert einen gefragten Job, baut ein selbst entworfenes Haus und trifft Josef - die Liebe ihres Lebens. Ihre Kinder, Stefan und Christof, werden ebenfalls fast blind geboren. Doch haben sie zum Glück nicht nur den Gendefekt, sondern auch den unbedingten Lebensmut ihrer Eltern geerbt - was sie ebenso eindrucksvoll unter Beweis stellen. Stefan wird als erster Blinder in Deutschland zum Priester geweiht. Sein Bruder Christof studiert ebenfalls Theologie - allerdings nicht, um Pfarrer zu werden, sondern um Religionsunterricht zu geben. Glaube ist die Kraftquelle, die ihnen hilft, die Steine auf ihrem Lebensweg aus dem Weg zu räumen - ohne diejenigen zu verurteilen, die sie ihnen vor die Füße werfen.

Jutta Hajek, Jahrgang 1965, arbeitet als freie Journalistin und Übersetzerin. Vor allem die Themen Inklusion und Spiritualität liegen ihr am Herzen. Die begeisterte Läuferin hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Ehemann in Kelkheim im Taunus. 

MARIECHEN


Heller ist besser

»Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen,
der liest sie auf,
der bringt sie nach Haus,
der leert sie aus,
und der Kleine, der isst sie alle auf.«

 

Mama hat mich im Kinderwagen mit nach draußen genommen. Sie hält mir ihre Hand vor die Augen, wackelt mit einem Finger nach dem anderen, während sie mir den Reim vorsagt. Die Sonne scheint mir ins Gesicht; ich strecke meine Arme in die Höhe, drehe meine Händchen hin und her und lache, wenn Mama ihre Finger bewegt.

Wenn ich draußen bin, wo die Sonne scheint, kann ich Umrisse erkennen. Hier spiele ich am liebsten. Wenn ich in der Küche auf der Eckbank im Halbdunkel sitze, werde ich still. Ich bin noch kein Jahr alt.

»Das Kind hat was mit den Augen«, sagte Mama zu ihrer Schwester.

Das hat sie mir später haarklein so erzählt. Es war das erste Mal, dass sie merkte, dass ich nicht war wie alle anderen, weil ich nicht richtig sehen konnte.

 

Wir wohnten im Erdgeschoss des großen Bauernhauses, das meine Patentante von ihren Eltern übernommen hatte. Wir Kinder nannten sie die »Godi«. Wenn man zur Haustüre hereinkam und in den Flur trat, ging man direkt auf die Küche zu. Links neben der Küche lag unser Schlafzimmer. Papa, Mama, meine drei Jahre ältere Schwester Anneliese, Rita, drei Jahre jünger, und ich – wir alle schliefen in diesem Zimmer: vier Betten nebeneinander, dazu eine Frisierkommode und ein Schrank mit Anziehsachen.

Auf dem Schrank standen Gläser mit Kirschen, Mirabellen, Apfelmus, Erbsen und Karotten. Äpfel und Kartoffeln kamen ins »Äbbelbett«, auf die Regale in dem Vorratslager unter der Küche. Einen tiefen Keller gab es nicht, weil das Haus nahe am Bach stand. Den Lagerraum nutzten Mama und ihre Schwester gemeinsam. Mama half manchmal bei anderen Familien im Garten oder auf dem Feld, und was sie geschenkt bekam, kochte sie ein, wenn wir es nicht gleich brauchten. In der Küche wurde gegessen, gespielt und gebadet. Am Samstag kam die große Wanne herein; Mama wärmte auf dem Kohleherd Wasser, und dann schrubbten sich mindestens zwei von uns darin, bevor sie es wechselte.

 

Die Godi und ihr Mann wohnten mit ihren vier Kindern im ersten Stock. Sie hatten zwei ältere Töchter und Zwillinge: ein Mädchen und einen Jungen. Der Bub stotterte.

 

1939 – ich war gerade zwei Jahre alt – brachten meine Eltern mich ins Krankenhaus, um meine Augen untersuchen zu lassen. Die Krankenschwester zog mir die Kleider aus. Ich musste für Untersuchungen bleiben und Krankenhauskleider anziehen. Meine Sachen gab die Schwester meinem Vater mit. Nach zehn Tagen durften mich meine Eltern wieder abholen.

Als sie kamen, baten die Ärzte sie zu einem Gespräch. »Sie ist blind«, erklärten sie meinen Eltern.

»Nein«, wehrte sich meine Mutter, »das stimmt nicht. Sie sieht etwas.«

Sie wusste, wie gefährlich eine körperliche Behinderung im Dritten Reich war. Das war der Grund, warum sie beweisen musste, dass ich nicht blind war. Also knipste sie die Taschenlampe an, die sie mitgebracht hatte, und legte sie in eine Ecke auf den Boden. »Mariechen, bring mir die Taschenlampe«, befahl sie. Weil sie hell leuchtete, fand ich die Lampe schnell. Der Arzt notierte, dass ich nur einen Sehfehler hatte, und wir durften nach Hause.

Doch was sollte ich anziehen? Meine Kleider hatten meine Eltern mitgenommen ‒ und vergessen wieder mitzubringen. Da ging Papa in den Ort und kaufte ein Leinenkleid für mich. Es hätte einer Sechsjährigen gepasst. Papa sorgte vor. Pudelnackt steckte er mich in das viel zu große Kleid, band es unten zu und nahm mich Bündel auf den Arm. Meine Eltern wussten sich immer zu helfen.

 

 

Wenn sie dich holen

Papa musste weg. Das Deutsche Reich hatte den Krieg gegen Polen begonnen, und Hitler brauchte Männer zum Kämpfen. Papa war eigentlich Schneider. In Bad Kreuznach wurde er zum Soldaten ausgebildet. Ich war gerade drei Jahre alt, als er gehen musste.

Die Godi unterstützte Mama, die nun mit uns drei Mädchen alleine war. Mama half ihr mit Näharbeiten, darin war sie gut. Beide versuchten, mir alles im Hellen zu zeigen, und behandelten mich