: Udo Milkau
: Decentralized Finance und Tokenisierung Zukunftsweisende Trends zwischen Smart Contracts und Gamification
: Schäffer-Poeschel Verlag
: 9783791057910
: 1
: CHF 65.20
:
: Betriebswirtschaft
: German
: 344
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie viel Dezentralität und wie viel Finanzierung der Realwirtschaft steckt in Decentralized Finance? Was sind Token eigentlich und wo liegt der Nutzen von Tokenization? Sind Token-versus-Token-Gesch fte schon ein Vorbote eines Schattenbank 2.0 Systems? Wie wirkt sich der allgemeine Trend zu einer Gamification auf DeFi und Token aus? Wo liegt die Grenze zwischen Gaming, Gambling und Ausnutzung von Informationsasymmetrien? Und was können Antworten der Regulierung sein, um Kunden- und Anlegerschutz-Interessen zu wahren, und mögliche Gefahren für die Finanzstabilität abzuwehren? Das Buch beantwortet diese und weitere Fragen und diskutiert, ob althergebrachte Intermediäre wie Banken oder Börsen durch rein technische Konstrukte abgelöst? werden und dadurch ein effizienteres und kostengünstigeres Finanzsyste gebaut werden könnte. Es bietet einen unverzichtbaren Überblick über die verschiedenen Aspekte von Decentralized Finance und Tokenization aus einer interdisziplinären Perspektive für Wissenschaftler:innen, Pr ktiker:innen, Jurist:innen, Bankenaufsicht und interessierte Studierende.

Dr. Udo Milkau war zuletzt als Chief Digital Officer im Geschäftsfeld Transaction Banking eines Finanzinstituts tätig. Er verfügt über umfassende Erfahrung in verschiedenen Bereichen des Bankgeschäfts wie Asset Management, Zahlungsverkehr und Wertpapierabwicklung, Operational Risk Management sowie Crypto-Assets. Zudem ist er Dozent an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Mosbach.

1 Der Versuch einer Definition von DeFi


Da »Decentralized Finance« (DeFi) ein recht junges Phänomen ist, das erst seit 2020 breitere Aufmerksamkeit erlangte, fehlt bisher eine allgemein akzeptierte Definition. Eine – zumindest aus Sicht des Autors – weitgehend konsistente Zusammenstellung von Charakteristika von DeFi findet sich im Report der OECD (2022) unter der Frage »What is DeFi?« [Hervorhebungen durch den Autor]:

  • Decentralised Finance or ›DeFi‹ is the latest development in the crypto-asset space, and claims to replicate the traditional financial system in an open, decentralised, permissionless and autonomous way, through applications built mainly on the
    Ethereum blockchain network [or other blockchain-platforms].

  • The key defining features […] to describe DeFi projects include its non-custodial nature (i.e.no central authority or other intermediary gets access or control over participants’ digital assets), community-driven governance (relying on participants for decision-making) and composability (i.e. components of DeFi are pieced to‑
    gether to create new products).

  • DeFi applications have the potential to provide benefits to financial market participants in terms of speed of execution and transaction costs, driven by the efficiencies produced by DLT-technological innovation anddisintermediation of third parties replaced by software code of smart contracts.

Diese Sicht auf DeFi ist grundsätzlich eine eher theoretische Definition, die unabhängig von der Realität der technischen Implementierung und von der Realität von wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen mit individuellen Intentionen formuliert wurde.

1.1 Zwei Hypothesen


Aus der Zusammenfassung kann man drei Punkte in Form einer Hypothese aufstellen, die in diesem Buch auf den Prüfstand gestellt werden soll.

Hypothese 1

Decentralized Finance (DeFi) ist ein Ansatz, (i) auf Basis von öffentlichen Blockchain-Plattformen mit (pseudo-)anonymem Zugang (ii) ohne traditionelle Intermediäre, aber (iii) durch Nutzung von sogenannten Smart Contracts das traditionelle Finanzsystem nachzubilden.

Da der Anspruch die Nachbildung ist, aber keine wirklichen Innovationen über das Bekannte hinaus, und keine grundsätzlich neuen Produkte angestrebt sind, liegen die möglichen Vorteile nur in einer gesteigerten Effizienz, wobei diese sich zum einen aus den »Transaction Costs « über den gesamten Lebenszyklus einer Geschäftstransaktion und zum anderen als größerer Gesamtnutzen über alle Transaktionen hinweg gemittelt ergibt.

Schwieriger ist dabei der Begriff »decentralized« zuzuordnen. Auch wenn es auf den ersten Blick den Anschein hat, dass dies eine technologische Eigenschaft wäre, löst eine Gegenüberstellung zur sogenannten Distributed Ledger Technology – als andere Bezeichnung für »Blockchain« (vgl. Kap. 9) – Fragen aus: Denn technisch ist diese Technologie »distributed«, da die Daten und Programme redundant auf vielen teilnehmenden Computern (»Knoten«) in einem Netzwerk verteilt sind, aber logisch stellt dies eine einheitliche und damit dann doch eine »zentrale« Datenhaltung und Programmumgebung dar.

Einen plausiblen Zugang zum Begriff »decentralized« hat Hilary J. Allen (2022) in einem Essay unter dem Titel »DeFi: Shadow Banking 2.0?« folgendermaßen beschrieben:

Confidence in our traditional financial system (and the agencies that oversee it) was justifiably shaken by the crisis of 2008; this has understandably piqued interest in visions of an alternative decentralized financial system where no one needs to trust any intermediary because intermediaries have been rendered superfluous.

Hilary J. Allen (2022)

Aus der Sicht von Ende 2022 mag es als ein Treppenwitz der Geschichte erscheinen, dass gerade die im Kontext der Krise von 2008 entstandene Crypto- und DeFi-Welt in diesem Jahr nun in ihre eigene Krise, den »Crypto Winter«, hineinschlitterte.

Als ein Beispiel für eine negative Sicht auf das traditionelle Finanzsystem und insbesondere auf die Rolle von Intermediären nach der Global Financial Crisis (GFC) von 2007/2008 kann die Beurteilung2 von Igor Makarov und Antoinette Schoar (2022) dienen:

The concern about the power and potential corruptibility or fragility of intermediaries, possibly heightened by the experience of the 2008 financial crisis ... it is important to recognize that intermediaries are not merely gate keepers which have no economic value except for rent extraction. … Many of the existing problems with intermediaries originate from well-known economic frictions that are inherent in financial markets, such as asymmetric information, adverse selection, moral hazard, and the riskiness of investments, etc.

Igor Makarov und Antoinette Schoar (2022)

Die Sicht von Hilary J. Allen ist komplementär zur technischen Perspektive, da sie die Substitution des Vertrauens in Intermediäre zum Referenzrahmen von Decentralized Finance macht. Damit ergibt sich eine modifizierte zweite Hypothese, die über eine reine Effizienzbetrachtung hinausgeht.

Hypothese 2

Decentralized Finance (DeFi) ist die Substitution des Vertrauens in Intermediäre eines in der Vergangenheit krisenbehafteten Finanzsystems durch die Utopie eines vollständig algorithmischen und fehlerfreien Systems aus Computerprogrammen mit entsprechenden Finanzfunktionen.

Schematisch ist diese zweite Hypothese in Abb. 1 illustriert, wo der Nutzer ausschließlich mit technischen Algorithmen interagiert und Token in dieser DeFi-Welt ausgetauscht werden. Doch muss dies als eine Utopie formuliert werden: Denn wer schreibt die Computerprogramme (und warum)? Wer betreibt die dafür notwendige Technik (und warum)? Und kann man diesen »wer« vertrauen, fehlerfreie Systeme ohne Eigeninteresse zu entwickeln und zu betreiben?

Abb. 1: Illustrative Darstellung der »Dezentralisierung« von DeFi durch Technik ohne Intermediäre

Diese Problematik knüpft an Deborah G. Johnson (2006) an, die in ihrer grundlegenden Arbeit »Computer systems: Moral entities but not moral agents« die primäre Intention und damit auch Verantwortlichkeit von Menschen als Entwickler, Programmierer und Betreiber von Computersystemen herausstellte:

Computer systems and other artifacts have intentionality, the intentionality put into them by the intentional acts of their designers.

Deborah G. Johnson (2006)

Damit stößt die Utopie, notwendiges Vertrauen in Intermediäre durch reine Technik zu ersetzen, auf die Realität einer menschlichen Intention der Entwickler und Betreiber, die diese Technik erschaffen – in welcher Form auch immer.

1.2 Offene Fragen


Wenn aber menschliche Intentionen doch nicht durch eine als perfekt vorauszusetzende Technik – im wortwörtlichen Sinne »ex machina« – ersetzt werden können, kann auch »Decentralized Finance« die generisch mit jedem Finanzsystem verbundenen Fragen nicht umgehen:

  • Gibt es beispielsweise eine Geldwäscheprävention bzw. -bekämpfung, d. h. Anti-Money Laundering/Combating the Financing of Terrorism (AML/CFT), wenn Nutzer ohne Identifikation (d. h. anonym bzw. pseudo-anonym) und auch ohne jede Bonitätsprüfung nur mittels einer IP-Adresse und einer installierten »Wallet« teilnehmen können? Dies wurde im Kontext der europäischen »Funds Transfer Regulation« und der Ergänzung von zwei Committees des Europäischen Parlaments am 31.3.2022 zur Einbeziehung von »unhosted« Wallets kontrovers diskutiert.

  • Oder wird sogar die Wallet zum alleinigen Zugangsschlüssel für DeFi, NFT, Blockchain-Games und das Metaverse (vgl. Kap. 15)?

  • Wer kümmert sich um Konsumenten- bzw. Anlegerschutz, speziell aufgrund von Asymmetrien zwischen Kreditnehmern mit einem generischen Ausfallrisiko und den Kreditgebern oder zwischen »normalen« Nutzern und...