Echo
Die Rhythmen von Geist und Gedächtnis ähneln Gezeiten. Ständig verändern sie ihre Gestalt. Selbst wer dabei war, John Lennon persönlich kannte und erlebt hat, vergisst manches. Einige erfinden die Geschichte neu, wollen Lücken füllen, und es sei ihnen vergeben. Vierzig Jahre sind ein Leben. Jedenfalls waren sie das für John. Dennoch scheint er kaum in die Ferne gerückt. 2020 ist ein Jahr voller Marksteine – zum vierzigsten Mal jährt sich seine Ermordung, zum fünfzigsten Mal das offizielle Datum der Auflösung der Beatles[1], zum sechzigsten Mal die Ankunft der Band in Hamburg und zum achtzigsten Mal seine Geburt in Liverpool – und so scheint es an der Zeit zu sein, noch einmal alles zu überdenken und dem Menschen nachzuspüren. Wer unter fünfzig ist, war noch nicht auf der Welt, als die Beatles sich trennten. Wer jünger ist als vierzig, war noch nicht geboren, als John starb. Unvorstellbar? Kommt es einem nicht so vor, als wäre er immer noch da? Mir jedenfalls.
Es gibt ebenso viele Versionen seiner Geschichte wie Stimmen, die sie erzählen. Wo Wahrheit zur Ansichtssache wird, können Fakten und Zahlen unbequem sein. Werden Erinnerungen durch Mutmaßung und Theorien verzerrt, können sie Verwirrung stiften. Wo solchen Vermutungen Irrtümer entwachsen, fällt rationales Denken der Spekulation zum Opfer. All dies verstellt den Blick. John selbst hat es mit einer Textzeile in »Beautiful Boy (Darling Boy)« aufDouble Fantasy, seinem letzten, zu Lebzeiten veröffentlichten Album, auf den Punkt gebracht: »Life is what happens to you while you’re busy making other plans.«[2]
John hat vieles gesagt in seinem vollgepackten halben Leben. Immer wieder hat er sich auf eigene Texte und Aussagen bezogen, die eigene Geschichte, seine Ansichten und Denkweisen neu dargestellt. Die Chronistin wird mit ebenso großer Gewissheit widerlegt wie all die widersprüchlichen Berichte und unterschiedlichen Erinnerungen jener, die ihm nahestanden oder seinen Weg kreuzten. Andere vor Rätsel zu stellen ist typisch John. Verwirrt?But I’m not the only one.
Wir wissen, wie es ausging. Es geschah am Montag, dem 8. Dezember 1980 in New York. Die Nacht war stürmisch und für die Jahreszeit ungewöhnlich mild. John und Yoko ließen sich nach einer abendlichen Session im Record-Plant-Aufnahmestudio in einer Limousine nach Hause fahren und erreichten das Dakota Building um circa 22:50 Uhr Eastern Standard Time. Ein gerade erst angereister gebürtiger Texaner stellte sich ihnen bewaffnet mit einer Charter-Arms-Pistole Kaliber .38 und einer Ausgabe von J. D. SalingersDer Fänger im Roggen entgegen. Der fünfundzwanzigjährige Mark Chapman hatte auf sie gewartet und feuerte nun seelenruhig fünf Mal auf John. Vier Schüsse trafen. Polizisten brachten den Verletzten ins Roosevelt Hospital an der 59th Street, Ecke Central Park, wo Dr. David Halleran, ein damals neunundzwanzigjähriger Allgemeinchirurg im dritten Berufsjahr, eine Herzmassage vornahm und still um ein Wunder betete.
Doktorwer? War den Berichten nicht zu entnehmen, Stephan Lynn und Richard Marks hätten versucht, Johns Leben durch eine Operation zu retten? Dr. Lynn gab zahlreiche Interviews, schmückte seine Erinnerungen immer weiter aus und behauptete außerdem, Yoko habe sich zu Boden geworfen und wie von Sinnen den Kopf aufgeschlagen. Nachdem er sich jahrelang die Schilderungen anderer Ärzte angehö