: Karina Urbach
: Das Buch Alice Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten
: Ullstein
: 9783843723572
: 1
: CHF 9.70
:
: Geschichte
: German
: 464
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Einst erfolgreiche Kochbuch-Autorin, verliert die Wiener Jüdin Alice Urbach unter den Nationalsozialisten Heimat, Familie und Karriere. Sie flieht nach England, wo sie jüdische Kinder betreut. Später emigriert sie nach New York, gibt Kochkurse in San Francisco und stellt im amerikanischen Fernsehen ihre besten Rezepte vor. In einer Wiener Buchhandlung findet sie nach dem Krieg sogar ihr Buch wieder. Doch wer ist der Mann, dessen Name auf dem Umschlag prangt? Hat es den 'Küchenmeister' Rudolf Rösch je gegeben? Recherchen führen Alice' Enkelin Karina Urbach in Wiener, Londoner und Washingtoner Archive, in denen sie längst verloren geglaubte Briefe, Tonband- und Filmdokumente findet. Sie eröffnen ein bislang unbekanntes Kapitel in der Geschichte deutscher NS-Verbrechen.

Karina Urbach wurde an der Universität Cambridge promoviert. Sie arbeitete am Deutschen Historischen Institut London und der Universität London. Seit 2015 forscht sie am Institute for Advanced Study in Princeton. Sie war an mehreren historischen Dokumentationen des ZDF, der BBC und des amerikanischen Senders PBS beteiligt. Neben Sachbüchern wie Hitlers heimliche Helfer und Queen Victoria. Die unbeugsame Königin veröffentlichte sie auch den historischen Roman Cambridge 5, der für mehrere Preise nominiert wurde.

Ein blinder Vater und ein schlechter Kartenspieler

»Schau ich mir die Juden an,
Hab ich wenig Freude dran.
Fallen mir die anderen ein,
Bin ich froh, ein Jud zu sein.«

Albert Einstein1

Es war eine lange, schmale Gasse. Die Häuser klebten eng aneinander, jeder Zentimeter Wohnraum musste genutzt werden. Im Parterre lagen die Läden, vollgestopft mit Stoffen, einen Stock höher die Wohnräume, vollgestopft mit Menschen. Es lebten ungefähr 5000 Leute hier, auch wenn es offiziell sehr viel weniger waren. Nicht jeder wollte gemeldet sein, manche kamen illegal bei Freunden und Verwandten unter. In dieser Judengasse, im Pressburger Getto, 60 Kilometer östlich von Wien, begann Alice’ Geschichte. Hier wuchs ihr Großvater Salomon Mayer (1798–1883) auf. Laut einer Familienanekdote stand er als Siebenjähriger mit seinen Eltern am Fenster der kleinen Wohnung und beobachtete, wie Weltgeschichte geschrieben wurde. Seine Mutter soll nach draußen gedeutet und zu ihm gesagt haben: »Schau auf diesen kleinen Mann da unten auf seinem weißen Pferd. Alle Welt zittert vor ihm. Sein Name ist Napoleon.«2

Wie so oft bei Familienanekdoten ist auch diese nicht sehr zuverlässig. Der Friede von Pressburg, dem heutigen Bratislava, wurde zwar im Dezember 1805 nahe der Judengasse geschlossen, aber bei den Unterzeichnern handelte es sich um Napoleons Außenminister Talleyrand und Johann Joseph Fürst von Liechtenstein, der die Habsburger vertrat. Napoleon selbst kam erst vier Jahre später nach Pressburg. Vielleicht hatte man sich also einfach in der Jahreszahl geirrt, und Salomon war bereits elf Jahre alt, als er den französischen Kaiser sah. Die Farbe des Pferdes ist allerdings ebenfalls nicht ganz exakt – Napoleons Schlachtpferd war ein hellgrauer Araber namens Marengo. Natürlich könnte es sein, dass Salomons Mutter annahm, das Pferd wäre einfach nur etwas schmutzig von der letzten Schlacht und im Original bestimmt weiß.3 Fantasie zu entwickeln war im Getto wichtig, um das Grau des Alltags zu verdrängen. Ein weißes Pferd klang auf jeden Fall sehr viel romantischer als ein graues.

Ob Salomon nun Napoleon und sein Pferd 1809 wirklich gesehen hat oder nicht – der entscheidende Grund, warum die Szene einen so hohen Stellenwert für ihn und die anderen Pressburger Juden hatte, wird in der Anekdote nicht erwähnt. Man musste es nicht erklären, weil es damals jeder wusste: Napoleon verkörperte die Französische Revolution, und Frankreich war für viele Juden zum Sehnsuchtsland geworden. Seit 1791 war es dort der jüdischen Bevölkerung erlaubt, freie Franzosen zu werden, die sich – zumindest theoretisch – nur noch durch ihre Religion vom Rest der Bevölkerung unterschieden. In den Augen der Pressburger Juden trug Napoleon diese Idee mit sich durch ganz Europa. Deswegen platzierten sich die Mayers in ihrer Familienerinnerung am Fenster, wo sie sahen, was sie sehen wollten. Jahreszahl und Pferd spielten letztlich keine Rolle, relevant war allein die Hoffnung auf eine angstfreie Zukunft. Es war eine Art Gründungsmythos für die Mayers, und Alice’ Bruder Felix spielte später sogar mit dem Gedanken, eine Famil