: Christina von Braun
: Stille Post
: Ullstein
: 9783843723084
: 1
: CHF 19.70
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 432
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Christina von Brauns berührende Familiengeschichte wurde von der Kritik als Ausdruck einer spezifisch weiblichen Art des Erinnerns gefeiert. Viele Leserinnen und Leser fanden sich darin wieder. Im Zuge der Me-too-Debatte ist Stille Post aktueller als je zuvor. Die Männer der Familie von Braun schrieben Geschichte: Christina von Brauns Vater war Diplomat. Ihr Großvater Magnus von Braun der erste Reichspressechef. Ihr Onkel der Raketenpionier Wernher von Braun. Wo aber blieben die Frauen? In den Tagebüchern und Briefen erkundet die Autorin die Lebensgeschichten ihrer Vorfahrinnen: Großmutter Hildegard Margis, Frauenrechtlerin und Unternehmerin der ersten Stunde, wird 1944 von der Gestapo wegen ihrer Kontakte zum Widerstand verhaftet. Wenig später stirbt sie im Gefängnis. Hilde, ihre Tochter, verschlägt es während des Krieges in den Vatikan, wo sie sich in eine tragische Affäre verstrickt und daran beinahe zerbricht. In einem neuen Nachwort beschreibt Christina von Braun, wie patriarchalische Denkstrukturen noch heute wirken und welche Kraft es braucht, sich aus ihnen zu lösen.

Christina von Braun, geboren 1944 in Rom, drehte etwa 50 Filmdokumentationen und verfasste zahlreiche Bücher und Aufsätze zu kulturgeschichtlichen Themen. 1994 wurde sie an die Humboldt-Universität zu Berlin berufen. Sie war Gründungsdirektorin und langjährige Leiterin des ersten Studiengangs Gender Studies in Deutschland und ist Senior Research Fellow des Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. 2013 erhielt Christina von Braun den Sigmund-Freud-Kulturpreis.

PROLOG

Von meinem Bett aus, im Dunkeln, sehen die beiden kleinen Lichter an meinem Laptop so aus wie die Lichter vom Bergdorf, die ich durch das Fenster sehen kann. Das Dorf liegt ungefähr sieben Kilometer entfernt, Luftlinie. Aber wir befinden uns in den Cevennen, und für die Strecke von dort zu uns braucht der Elektriker mindestens vierzig Minuten. Er muss über Serpentinen von seinem Berg herunterfahren, dem vertrockneten Flussbett in einem gewundenen Tal folgen, um auf der anderen Seite, an unserem Berg, über Serpentinen wieder hinaufzufahren. Es muss schon wirklich etwas geschehen, damit er den Weg zurücklegt. Dass der Boiler durch Blitzschlag durchgebrannt ist zum Beispiel. Allerdings kommt er nicht ungern. Es gibt auf dem Berg hinter unserem Haus eine heilige Quelle, die auf einem der alten Pilgerwege nach Santiago de Compostela liegt. Manchmal, bei anhaltender Trockenheit, machen sich die Leute aus der Umgebung auf den Weg und vollziehen dort geheimnisvolle Rituale. Damit es wieder regnet, müssen sie dreimal um den Brunnen gehen und dabei Gebete sprechen. Unser Elektriker ist frommer Christ – keine Reparatur ohne ein wenig Mission, das ist im Preis inbegriffen. Aber wenn es um das Wasser geht, dann hält er sich doch gerne an die Bräuche der Alten. Vor der Dürre hat er Respekt – und vor den gewaltigen Gewittern in der Gegend. Gehen Sie mal über die Friedhöfe, so sagt er, und schauen Sie sich die Grabsteine an. Bei jedem zweiten steht: foudroyé! Vom Blitz erschlagen! Vielleicht ist er deshalb Elektriker geworden. Diese gewaltigen Entladungen von Strom. Dagegen muss man doch etwas tun, das will gebändigt und in ordentliche Leitungen verlegt werden.

Morgen will ich anfangen zu schreiben. Mein Laptop ist ausgepackt. Ich will über diese gewaltigen Entladungen von Strom und Wut erzählen, die gelegentlich von meiner Mutter ausgingen. Als Kinder hatten wir alle einen Höllenrespekt vor diesen Ausbrüchen. Und ich will von meiner Großmutter erzählen, die ich nicht mehr gekannt habe. Sie starb drei Monate, nachdem ich geboren wurde – in Berlin, im Gefängnis.

Diese Großmutter, Hildegard Margis, war der Anlass für dieses Buch. Es war nicht einfach, Genaueres über sie zu erfahren: Ihr Haus wurde zerbombt, ihre Möbel, Akten und Erinnerungsstücke kamen nach ihrem Tod zu meinen väterlichen Großeltern nach Schlesien und wurden dort später geplündert. Den Schmuck, die Akten, die sie in einem Safe der Dresdner Bank deponiert hatte, nahmen russische Soldaten mit. Meine Mutter, die wie ihre Mutter Hildegard hieß, besaß so gut wie nichts von ihr. Es kann aber auch sein, dass sie nichts aufbewahrt hat. Sie wollte ihre Mutter, glaube ich, gerne vergessen. Dennoch hat sie sie ihr Leben lang nicht losgelassen. Das muss ich schon als Kind gespürt haben. Mein Onkel Hans, der Bruder meiner Mutter, war der einzige Sohn meiner Großmutter und landete später in Australien. Die wenigen Unterlagen, die er über seine Mutter besaß, wurden vernichtet, als seine Farm in Flammen aufging. Eines der großen Buschfeuer, die immer mal wieder in Australien wüten. Es ist fast ein Wunder, dass ich überhaupt etwas über meine Großmutter herausfinden konnte. In den Berliner Archiven – Landesarchiv, Verlagsarchive, Siemensarchiv – fand ich schließlich ein paar konkrete Hinweise. Ich bin jedoch zu der Erkenntnis gekommen, dass sich die Erinnerungen an manche Menschen auch in Form von Schweigen oder als Rätsel festschreiben können.

Je mehr ich mich mit dem Leben meiner Großmutter beschäftigte, desto mehr interessierte mich auch das »Vorleben« der anderen Familienmitglieder. Ich begann, mich auch in die Tagebücher meiner Mutter zu vertiefen, die sie von1944 bis1949 – während ihrer Jahre im Vatikan – führte. Bis auf die letzten drei Jahre w