: Ebba D. Drolshagen
: Gebrauchsanweisung für Norwegen
: Piper Verlag
: 9783492604796
: 1
: CHF 12.50
:
: Europa
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein unvergesslicher Besuch im Land am Golfstrom, wo Bürgersteige beheizt sind, Politiker gern in Tracht erscheinen und es die höchste Lebensqualität der Welt gibt. Die Autorin erklärt, was ein norwegisches »vorspiel« ist, warum in Norwegen so viele Krimis geschrieben werden, die Königsfamilie unentbehrlich ist und das Landeswappen kein Elch, sondern ein Löwe ziert. Sie nimmt uns mit nach Oslo im Süden und zu den Rentier-Samen im Norden, zum Baden ans Meer und zum Skilaufen in die Berge. Und berichtet, wie das Land nach den Ereignissen auf Utøya mit seiner Haltung weltweit ein Exempel statuierte. Das grundsympathische Porträt eines Landes, das fast 2000 Kilometer lang ist und weniger Einwohner hat als Barcelona.

Ebba D. Drolshagen, geboren in Büdingen, wuchs bis zu ihrem fünften Lebensjahr in Norwegen auf. Heute lebt sie als Journalistin, Autorin und Übersetzerin in Frankfurt am Main. Neben politischen Sachbüchern veröffentlichte sie bei Piper ihre erfolgreiche »Gebrauchsanweisung für Norwegen« und bei Malik ihre Sammlung skurriler Seeabenteuer »Immer noch kein Land in Sicht«. 

Die Tragödie


Oslo, im Juni 2011. Der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg, der Schriftsteller Jo Nesbø sowie ein weiterer Freund radeln durch die Stadt. Ihnen folgen, ebenfalls auf Rädern, zwei Leibwächter. Das Grüppchen hält an einer roten Ampel, neben ihnen wartet ein Auto auf grünes Licht. Durch das offene Fenster ruft dessen Fahrer dem Ministerpräsidenten zu: »Jens! Hier ist ein kleiner Junge, der es cool fände, dir mal Guten Tag zu sagen!« Stoltenberg lächelt, schüttelt dem kleinen Jungen auf dem Rücksitz die Hand und sagt: »Guten Tag, ich heiße Jens.«

Jo Nesbø hat diese kleine Begebenheit in derNew York Times erzählt: »Der Ministerpräsident trägt einen Fahrradhelm, der Junge einen Sicherheitsgurt; sie haben an einer roten Ampel angehalten. Die Leibwächter stehen dahinter, in diskretem Abstand. Lächelnd. Ein Bild von Sicherheit und gegenseitigem Vertrauen. Ein Bild der normalen, idyllischen Gesellschaft, die wir alle für selbstverständlich hielten. Wie sollte da etwas schiefgehen? Wir trugen Fahrradhelme und Sicherheitsgurte, wir beachteten die Verkehrsregeln.«

Wenig später ging etwas wirklich furchtbar schief. Am 22. Juli 2011, um 15:25 Uhr, explodierte vor dem Bürogebäude des Ministerpräsidenten eine Autobombe. Teile des Regierungsgeländes im Zentrum Oslos wurden verwüstet, acht Menschen starben. Auf die Täter und deren Motive gab es keinerlei Hinweise. Wenig später sprach Ministerpräsident Stoltenberg im Fernsehen von dem »größten Verbrechen, das Norwegen seit dem Zweiten Weltkrieg« getroffen habe. Man wisse nicht, wer dafür verantwortlich sei, es sei aber »in einer solchen Stunde wichtig, für das einzustehen, woran wir glauben. Sie werden uns nicht zerstören. Wenn es darauf ankommt, wird die norwegische Demokratie stärker.«

In die ersten chaotischen Berichte platzte die Nachricht, dass es im Sommerlager der Sozialdemokratischen Jugend auf der Insel Utøya dreißig Kilometer nordwestlich von Oslo eine Schießerei gegeben habe. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 69 Menschen geradezu hingerichtet, zahllose verletzt worden, einige sehr schwer. Die ersten Polizisten kamen mehr als eine Stunde nach dem ersten Hilferuf auf die Insel. Es gab nur einen Täter, der sich bereitwillig festnehmen ließ. Er habe den Bombenanschlag und die Morde jahrelang vorbereitet, sie seien »grausam, aber notwendig« gewesen, um Norwegen vor »Kulturmarxismus und Islamisierung« zu bewahren.

Regierungschef Jens Stoltenberg blieb dabei, dass man auf diese ungeheure Tragödie mit mehr Demokratie und mehr Freiheit reagieren müsse. Und er erwies sich als großer Staatsmann, indem er zunächst ostentativnichts tat – jedenfalls nichts, was auch nur im Entferntesten als politische Tat zu werten gewesen wäre. Was er (sichtbar) tat, war vor allem das: Er umarmte die Überlebenden der Anschläge und die Angehörigen der Ermordeten, weinte mit ihnen, sprach mit ihnen. Er mahnte immer wieder: »Halten wir inne, nehmen wir uns Zeit zu trauern.« Seine Reaktion war das Gegenteil von dem, was spätestens seit dem 11. September 2001 zur Regel geworden ist: Führungskraft demonstrieren undetwas tun. Vor allem das: etwastun.

Es war eine Sensation, die weltweit Aufsehen erregte und verwirrte: In einer der größten Krisen seines Landes nahm ein Regierungschef sich das Recht, nichts zu tun. Innezuhalten und das Volk zum Innehalten aufzufordern. Eine weitere Sensation war, dass 96 Prozent der Norweger das nicht als Führungsschwäche interpretierten, sondern als eine besonnene Art der Krisenbewältigung, die sie befürworteten. Sie wussten, dass Stoltenberg diese Betroffenheit und Trauer nicht spielte. Er hatte Mitarbeiter verloren, er kannte die Familien einiger ermordeter Kinder und Jugendlicher. Auch die Königsfamilie war unmittelbar betroffen, denn unter den Toten war ein Stiefbruder von Kronprinzessin Mette-Marit.

Dieses Nichthandeln spiegelte die Sprachlosigkeit und Lähmung der ganzen Nation, es beruhigte die Norweger und bestätigte sie in ihrem tiefen Vertrauen in ihren Staat: Wenn wir ihn wirklich brauchen, ist er für uns da. Wir werden von Menschen regiert, die gar nicht so anders sind als wir. Sie sahen ihren König mit hochrotem Kopf weinen und fühlten sich getröstet, denn alle weinten, trauerten, waren vor Entsetzen gelähmt.

Drei Tage nach den Anschlägen fanden im ganzen Land Gedenkfeiern statt. Es wurde nicht geschrien, es wurden keine aufpeitschenden Reden gehalten. Es herrschte Stille, alle hatten Rosen dabei. Seit dem Kriegsende im Mai 1945 waren nicht mehr so viele Menschen gleichzeitig auf der Straße gewesen, 200 000 sollen es allein in Oslo gewesen sein, in einem entlegenen Weiler an der Westküste waren es acht. Als Stoltenberg seine Rede vor den 200 000 Osloern (und der Nation) mit den Worten schloss: »Unsere Mütter und Väter haben gesagt: ›Nie mehr 9. April!‹ Wir sagen: ›Nie mehr 22. Juli!‹«, verstand ihn jedes Kind. Kein Ereignis in der norwegischen Geschichte hat die Nation so tief und so dauerhaft traumatisiert wie der deutsche Überfall vom 9. April 1940. Was er meinte, war also: Damals standen wir gegen den übermächtigen Feind zusammen, wir sind gestärkt aus den Zeiten des Leids hervorgegangen. So wird es auch diesmal sein. Wir haben eine Zukunft.

Alle Parteien einigten sich sofort darauf, die Geschehnisse nicht in Politik umzumünzen. Es wurde heruntergespielt, dass der Mörder eine Zeit lang Mitglied der rechtspopulistischenFortschrittspartei gewesen war, die rechten Tendenzen in der norwegischen Gesellschaft blieben unerwähnt. Die Botschaft lautete: Der Angriff galt uns allen.

Es sollte zehn Jahre dauern, bis an dieser Sprachregelung gerüttelt wurde und die Überlebenden das Eingeständnis forderten, dass es ein gezielter Angriff auf die Sozialdemokraten und somit ein politisches Attentat war.

 

Die Anschläge haben das Land verändert. Nachdem Untersuchungen des Tages eine unglaubliche Häufung von Inkompetenz, Fehlentscheidungen, Schlampereien und schierem Pech zutage gefördert hatten, wurde die Polizei grundlegend reformiert (aber Polizist:innen sind in der Regel weiterhin unbewaffnet). Politiker:innen haben mehr Personenschutz, öffentliche Gebäude sind stärker gesichert. Auf Utøya, weiterhin Ort des Sommerlagers, gibt es mehrere Erinnerungsorte für die dort Ermordeten; im Sommer 2022 wurde am Fähranleger auf der Landseite eine nationale Gedenkstätte für alle 77 Todesopfer der Anschläge eingeweiht, um dessen Gestaltung zehn Jahre lang nicht immer würdig gestritten wurde. Die Zerstörungen im Regierungsviertel haben das Stadtbild unwiderruflich gezeichnet. Da dies das Zentrum des demokratischen Norwegens ist, könnte die Symbolkraft des Wiederaufbaus nicht größer sein, entsprechend kontrovers wird um jedes Detail gestritten, besonders erbittert wurde um den Abriss eines Gebäudes mit Wandmalereien nach Entwürfen von Pablo Picasso gekämpft. Diese sollen im neuen Viertel prominent platziert werden. Doch der (Wieder-)Aufbau kommt bestürzend langsam voran, die geschätzten Kosten für das Bauprojekt »Neues Regierungsviertel« werden in Zehn-Milliarden-Kronen-Schritten nach oben justiert.

Der Täter, der 77 Menschen ermordet, Hunderten schwerste körperliche und seelische Schäden zugefügt, zahllosen einen geliebten Menschen genommen hat, wurde nach einem vorbildlichen Prozess zu lebenslanger – das heißt in Norwegen: maximal 21 Jahre – Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Er sitzt in Isolationshaft, ein Antrag auf vorzeitige Haftentlassung wurde abgelehnt.

Er konnte die Sicherheit und das gegenseitige Vertrauen, von denen Jo Nesbø sprach, nicht zerstören. Trotz »Utøya«, wie der 22. Juli 2011 genannt wird, mischen sich Politiker:innen und die Königsfamilie (vermutlich zum Kummer ihrer Leibwächter) weiterhin unter das Volk, das Königspaar fährt in einer Limousine durch Oslo, die – wie alle – an der roten Ampel hält.

Niemand, sagte Kronprinz Haakon, könne die Anschläge vom 22. Juli ungeschehen machen, »aber wir können wählen, was sie mit uns machen«.

 

Seither ist Norwegen nicht von Hasskriminalität verschont geblieben. 2022 schoss ein aus dem Iran stammender Norweger in einem Schwulenlokal in die Menge; zwei Menschen wurden getötet, mindestens 21 weitere verletzt. Die Polizei sprach von einer »extremen islamistischen...