Eins
Wer im Wald überleben will, muss stark sein wie die Bäume, hat Papa immer gesagt. Die Erinnerung ist ein Flüstern im Vergleich zu dem Aufruhr, den mein knurrender Magen verursacht.
Ich versuche, nicht an meinen Vater oder meine zitternden Beine zu denken, während ich mit einem abgebrochenen Zweig meine Stiefelabdrücke in der staubigen Erde verwische. Jede Faser meines ausgehungerten Körpers schreit danach, anzuhalten und gleich hier am Pfad, der durch den Endlosen Wald führt, zu jagen. Nur die Aussicht, dabei erwischt zu werden, treibt mich vorwärts – über Steine und durch Matsch, stolpernd, mit schweren Stiefeln.
Schwach, wie ich bin, schaffe ich es nie und nimmer durchs schroffe Malam-Gebirge bis zu der Tiefebene, an der König Aodrens Jagdgrund endet. Das ist ein Fußmarsch von zwei Tagen. Zwei lange, zermürbende Tage. Vor meinen Augen flimmert es. Bei allen Senfkörnern, ich brauche etwas zu essen. Papas alter Übungsplatz muss reichen. Dort wird mich die Königsgarde, die über die Residenzstadt Brentyn wacht, sicher nicht aufspüren. Die abgelegene, nur über eine schmale Felsenklamm zugängliche Lichtung kennt niemand außer Cohen, Papas einstigem Lehrling, und mir. Mein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen, und damit ist die Sache entschieden. Auf zum Übungsgelände.
Die Sonne steht schon fast im Zenit, als ich auf die Lichtung taumle. Herbsüßer Kiefernduft belebt die Luft. Vor dem Hintergrund der dunklen Nadelbäume leuchtet das Laub der Pappeln am nahen See golden und rotbraun, wie Glut. Der Anblick ist mir wohlig vertraut.
Obwohl ich vor Hunger fast ohnmächtig werde und zum Jagen hier bin, kann ich nicht anders, als zuunserem Baum zu gehen und die eingeschnitzten Namen mit dem Finger nachzufahren:Tessa& Cohen.
In meinem Hals bildet sich ein dicker Kloß.
Cohen ist letztes Jahr weggezogen, um für den König zu arbeiten, und Papa ist vor zwei Monaten getötet worden. Seither habe ich die erdrückende Einsamkeit so gut es ging von mir ferngehalten und den Gedanken daran immer nur kurz zugelassen. Doch heute springt mich das Gefühl von Isolation geradezu an; es ist wie ein Schlag ins Gesicht.
Ich wische mir eine verstohlene Träne ab und lege einen Pfeil in meinen Bogen ein.
Mein Körper ist kaum mehr als ein Gerippe, so dünn bin ich geworden. Gegen meine Blässe kann ich nicht viel ausrichten, aber ein Eichhörnchen oder ein Auerhuhn wird meinen Hunger stillen. Und mir etwas Kraft zurückgeben. Später erlege ich dann ein größeres Tier. Der Winter steht vor der Tür, und ich brauche unbedingt eine ordentliche Beute, die ich gegen ein Dach über dem Kopf eintauschen kann. Jetzt, da die Trauerzeit vorüber ist, wird die Königsgarde mein Land – nein, Papas Land – schon bald beschlagnahmen.
In ein paar Tagen werden knüppelschwingende Mistkerle an die Tür hämmern und sich mein Häuschen unter den Nagel reißen. Ich ziehe an der Bogensehne, um den Druck zu prüfen. Ich muss etwas erwischen. Egal was. Auch wenn ich damit gegen das Gesetz verstoße. In Malam gebietet es die Tradition, dass sich Trauernde zwei Monate lang zu Hause einschließen, und ich habe mich daran gehalten, obwohl ich fast verhungert wäre. Denn niemand hat mir nach Papas Tod etwas zu essen gebracht. Nie auch nur eine freundliche Geste für mich, Tessa Flannery, Tochter einer Shaerdanerin und somit eine Geächtete.
Ein Jahr vor meiner Geburt ließ der Prinzregent