Hanna.
Watzmann, Ramsau
Michi Renner
Es ist ein Samstag im Juli 2019, warm und trüb zugleich. Zeitig am frühen Morgen sind vier Bergsteiger vom Watzmannhaus zum Grat aufgestiegen: ein Vater mit seinen beiden etwa 20-jährigen Töchtern und einem Begleiter, während die Ehefrau im Watzmannhaus auf die Rückkehr der Vier warten will. Gegen Viertel vor acht ist die Gruppe vor der Mittelspitze, wo der ausgesetzte Weg auf dem schmalen Grat sich verbreitert und nach rechts hinaufführt und geradeaus ein Loch im Felsen gähnt, das wie ein Rohr in die Ostwand mündet.
Ob Unachtsamkeit oder ein Ausrutscher auf nassem Gestein eine Rolle spielt, wird für immer unklar bleiben. Eine der beiden jungen Frauen kommt vom Weg ab und fällt vor den Augen ihrer Begleiter in das Loch. Dann ist sie verschwunden und von oben nicht mehr zu sehen. Denn dort, wo das Loch in die Wand mündet, fällt diese steil ab.
***
An einem Tag im Juli 2021 bin ich mit Michi Renner von der Bereitschaft Ramsau unterhalb am Watzmann unterwegs. Der Tag ist warm und trüb zugleich, von den drei Gipfeln des Watzmann, dem Hocheck, der Mittelspitze und der Südspitze sehen wir an diesem Tag von der Kührointhütte aus nichts. Eine undurchdringliche Decke dampfiger Wolken versperrt den Blick auf Hocheck und Mittelspitze, die man von hier bei guter Sicht sehen kann, während Michi Renner von den Gipfeln und vom Grat erzählt.
„Wenn du jemals die Watzmann-Ostwand gegangen bist, kommst du dir klein vor“, sagt Michi Renner. „Denn wenn du dich oben, wo es ausgesetzt ist, mal fünf Minuten hinsetzt und um dich schaust, siehst du nur noch Wand. Nur Fels, nichts anderes. Wenn du da nicht verstanden hast, dass du nur ein winzig kleiner Teil dieser Welt bist, gibt es vermutlich keine Hoffnung mehr für dich.“
Meine Spurensuche nach dem, was die innere Chemie von Bergrettern ausmacht, ist an diesem Vormittag mit Michi Renner um einen Begriff reicher geworden: Demut. Er kennt dieses alte Wort, das fast aus der Welt verschwunden ist.
Er weiß, was es bedeutet, auch wenn er sich selbst als „vorlaut, manchmal frech“ charakterisiert. Vielleicht lernt man so zu denken, wenn man wie Michi Renner am Fuß des Berges lebt und jede Woche Menschen herunterholt, die es aus eigener Kraft nicht mehr schaffen.
Er lebte nicht immer in der Ramsau, wie sie hier zu ihrem Dorf mit seinen „Notschaften“ – den fünf verstreuten Gemeindeteilen – sagen. Eigentlich stammt er aus Regensburg und kam nach seiner Offizierslaufbahn bei den Gebirgsjägern in Reichenhall hierher, um mit seiner Frau, einer Ramsauerin, eine Familie zu gründen. Er ist ausgebildeter Einsatzleiter bei der dortigen Bereitschaft, ein 36-jähriger Vater von zwei Kindern.
Während wir an diesem Vormittag an der Kührointhütte am Fuß des Watzmann unterwegs sind, erzählt er von seiner Zeit als Gebirgsjäger. Und von den Einsätzen mit der Bergwacht, die er wie alle anderen in der Bereitschaft Ramsau in seiner Freizeit und unentgeltlich leistet.
***
Auch Michi Renner ist an jenem Samstagmorgen 2019 früh auf den Beinen. Mit seiner zehn Monate alten Tochter Anna ist er allein zuhause. Seine Frau ist verreist, in der Ramsau herrscht relativ schönes Wetter, doch wenn er aus dem Fenster blickt, stecken die Gipfel in Wolken. Er hat vor, den Tag mit seiner Tochter zu verbringen, und hat dienstfrei bei seiner Bereitschaft.
Um 08:07 Uhr signalisiert Michi Renners Handy einen Alarm. Er hält inne, schaut kurz seiner Gewohnheit folgend aufs Display:„Abgestürzte Person am Watzmann vor der Mittelspitze.“
Er weiß, dass eine Alarmierung um diese Uhrzeit nichts Gutes bedeutet, weiß, dass die üblichen Routineeinsätze wie Erschöpfte, Blockierte oder kreislaufbedingte Notfälle in der Regel am Nachmittag reinkommen. ‚So früh am Tag‘, denkt er, ‚ist das ungewöhnlich. Da muss etwas Schlimmes passiert sein.‘ Obwohl er keinen Dienst hat, schaltet er das Funkgerät an. ‚Hörst ein bisschen mit‘, denkt er sich. ‚Ich hab gerade nichts zu tun. Die Anna spielt so schön.‘
Er bekommt mit, dass eine 22-jährige Bergwanderin wenige Minuten zuvor über 50 Meter tief die Ostwand hinuntergestürzt ist. Michi Renner weiß, dass in der Regel kaum jemand einen Sturz aus solcher Höhe überlebt. Nicht in der Ostwand.
Während er in der Küche aufräumt, baut sich bei der Bergwacht der Einsatz mit gewohnter Geschwindigkeit auf. Er hört, wie die Bereitschaft Ramsau ihre Männer und Frauen mit dem Bereitschaftsfahrzeug, dem über 30 Jahre alten „Pinzgauer“, rumpelnd nach oben zum Kühroint bringt. Wie die Bereitschaft Berchtesgaden schnell mit ins Boot kommt und deren erstes Team vom Tal aus per Hubschrauber zum Unglücksort fliegt. Wie die Besatzung bei einem ersten Überflug die Stelle, an der die Abgestürzte liegt, zwar ausmachen kann, aber wenige Augenblicke später wegen dichter Wolken abdrehen muss. Dem Piloten bleibt nur, die Einsatzkräfte unterhalb der Wolkendecke vor dem Hocheck-Gipfel abzusetzen. Von dort ist es immer noch eine halbe Stunde bis zum Einsatzort – vorausgesetzt, man balanciert schnell und trittsicher unterwegs mit 12 bis 13 Kilo Ausrüstung auf dem Rücken auf dem schmalen Grat. Weil die Wolkendecke weiter sinkt, können nachrückende Einsatzkräfte nur noch tiefer und in größerer Entfernung abgesetzt werden.
Etwa eine Stunde nach der Alarmierung seilen sich die ersten beiden Bergretter 50 Meter vom Grat zur Unfallstelle ab und geben einen Lagebericht durch. Als Michi Renner die wenigen Sätze hört, ist er wie elektrisiert: Die 22-Jährige liegt am Fuß der Wand in einem steilen Altschneefeld. Sie ist schwer verletzt und bewusstlos, doch sie lebt. Drei Ersthelfer, die den Absturz bemerkt hatten, sind vor Ort. Zufällig sind es zwei Bergwachtler aus der Oberpfalz, die sich bereits zur Verletzten abgeseilt haben, der dritte Mann ist Rettungsassistent. Er nimmt sich der Angehörigen an, die vor Ensetzen gelähmt auf dem Grat verharren.
Dieser Funkspruch ändert die Situation völlig. Die Verunglückte hat den Absturz überlebt. Statt der Bergung eines leb