Kapitel 1
| Einiges zur Verwirrung
|
»Das Wort ›Utopie‹ allein genügt
zur Verurteilung einer Idee.«
— JACK LONDON —
WAS EIN ANARCHIST IST, weiß jeder: ein gewalttätiger Mensch, ein Terrorist zumeist, außerdem schmuddelig, die Unordnung liebend, Chaos verbreitend wo er geht und steht. Seine Lieblingsbeschäftigung besteht im Werfen von Bomben, die er üblicherweise unter einem wallenden, schwarzen Umhang verbirgt, das Gesicht von einem aus der Mode gekommenen Schlapphut verdeckt. Notfalls greift er auch zu Dolch oder Revolver – Hauptsache, er kann seinen Blutdurst stillen.
Oder aber er ist krank, erblich gar. Ein wissenschaftliches Standardwerk des 19. Jahrhunderts definiert Anarchisten schlicht als »Idioten oder angeborene Verbrecher, die noch dazu allgemein humpeln, behindert sind und asymmetrische Gesichtszüge tragen«. Anarchie als Geisteskrankheit also – das erklärt und entschuldigt alles.
Sodann die Variante der Verblendung: Anarchisten seien »kleinbürgerliche Chaoten«, die den »objektiven Gang der Geschichte« noch nicht erkannt hätten; lauter zwar in ihren Absichten, aber letztendlich doch »voluntaristische Helfershelfer der Konterrevolution«. Deshalb gehörten sie als »Linksabweichler« auch am besten »liquidiert«. Diese Tonart schlugen in der Vergangenheit mit Vorliebe Marxisten aller Richtungen an, die inzwischen angesichts des Scheiterns ihrer ›objektiven Geschichtswahrheiten‹ jedoch in Schweigen verfallen sind.
Schließlich die moderne Definition – eine Mischung aus Psychoanalyse und Düsternis: Anarchisten wären demnach frühkindlich geschädigte Psychoten, die ihre privaten Probleme in abgrundtiefen Hass auf die Gesellschaft umwandeln und sich zur Rechtfertigung eine ›Philosophie des Nichts‹ schmiedeten. Sie seien ebensosehr zu bedauern wie zu bekämpfen.
Tragisch, niemand scheint sie lieb zu haben, die Anarchisten.
Sie ahnen schon, all dies ist Unsinn, und Sie ahnen richtig. Das macht die Sache allerdings nicht einfacher, denn eine korrekte Definition ist schon deshalb schwierig, weil Anarchismus keine einheitliche Bewegung ist, sondern eine vielfältige und damit auch widersprüchliche. Das liegt in ihrem Wesen, denn ihr Wesen ist Freiheit, und Freiheit ist nicht uniform.
So gibt es unter Anarchisten denn auch alle möglichen Überzeugungen und Strategien der Veränderung. Von Ökologen über Gewerkschafter, Pädagoge