: Horst Stowasser
: Anarchie! Idee - Geschichte - Perspektiven
: Edition Nautilus
: 9783960542179
: 1
: CHF 21.30
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 450
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Bunt, bizarr und widersprüchlich, verführerisch für die einen, Inbegriff des Bösen für die anderen, zieht sich die Idee der Anarchie durch die Geschichte der Menschheit. Ist sie ein weltfremder Traum oder ein noch zu realisierender Entwurf? Das Buch berichtet von Versuchen, diese Vision zu verwirklichen. Anarchie, ein Wort, das von jeher Schrecken ausgelöst hat, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als faszinierende Wundertüte. Sie will das 'brutale' Chaos der heutigen Gesellschaft durch das 'sanfte' Chaos vernetzter horizontaler Strukturen ersetzen, in dem die Herrschaft des Menschen über sich und die Natur überflüssig wird. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen lassen das Interesse an sozialen Entwürfen wieder wachsen, die bisher im Schatten standen. Horst Stowasser stellt die bestechendste Utopie vor: den Anarchismus. Verständlich geschrieben und umfassend angelegt, ist dieses Buch ein Standardwerk. Neben einer kritischen Einführung in die freiheitliche Ideenwelt macht der Autor eine Reise durch die reiche Geschichte anarchistischer Experimente.

Horst Stowasser (1951-2009), Autor und Anarchist, kam schon als Jugendlicher in Argentinien, wo er sein Abitur machte, mit dem historischen Anarchismus in Berührung. In Deutschland gründete er 1971 das anarchistische Dokumentationszentrum 'AnArchiv', eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten und Literatur zum Anarchismus. Horst Stowasser vertrat keine theoretische Strömung des Anarchismus, sondern setzte sich für ein projektorientiertes Wirken ein. Seit 1989 betrieb er gemeinsam mit anderen in Neustadt an der Weinstraße das 'Projekt A', das auf die Verankerung libertärer Ansätze und Vorstellungen in einer Kleinstadt abzielt. Selbstverwaltete Betriebe, Wohnmöglichkeiten und Kulturveranstaltungen sind hier umgesetzte Lebenspraxis und Ausdruck des von Horst Stowasser mit viel Einsatz und Leidenschaft vertretenen 'Projektanarchismus'. Seine Ideen und seine umfassenden Kenntnisse über die Geschichte des Anarchismus hat er in zahlreiche Büchern veröffentlicht. Er war Herausgeber diverser Zeitschriften und Magazine und hat zahlreich Aufsätze und Studien zu sozialen und politischen Themen veröffentlicht.

Kapitel 1


Einiges zur Verwirrung


»Das Wort ›Utopie‹ allein genügt
zur Verurteilung einer Idee.«

— JACK LONDON —

WAS EIN ANARCHIST IST, weiß jeder: ein gewalttätiger Mensch, ein Terrorist zumeist, außerdem schmuddelig, die Unordnung liebend, Chaos verbreitend wo er geht und steht. Seine Lieblingsbeschäftigung besteht im Werfen von Bomben, die er üblicherweise unter einem wallenden, schwarzen Umhang verbirgt, das Gesicht von einem aus der Mode gekommenen Schlapphut verdeckt. Notfalls greift er auch zu Dolch oder Revolver – Hauptsache, er kann seinen Blutdurst stillen.

Oder aber er ist krank, erblich gar. Ein wissenschaftliches Standardwerk des 19. Jahrhunderts definiert Anarchisten schlicht als »Idioten oder angeborene Verbrecher, die noch dazu allgemein humpeln, behindert sind und asymmetrische Gesichtszüge tragen«. Anarchie als Geisteskrankheit also – das erklärt und entschuldigt alles.

Sodann die Variante der Verblendung: Anarchisten seien »kleinbürgerliche Chaoten«, die den »objektiven Gang der Geschichte« noch nicht erkannt hätten; lauter zwar in ihren Absichten, aber letztendlich doch »voluntaristische Helfershelfer der Konterrevolution«. Deshalb gehörten sie als »Linksabweichler« auch am besten »liquidiert«. Diese Tonart schlugen in der Vergangenheit mit Vorliebe Marxisten aller Richtungen an, die inzwischen angesichts des Scheiterns ihrer ›objektiven Geschichtswahrheiten‹ jedoch in Schweigen verfallen sind.

Schließlich die moderne Definition – eine Mischung aus Psychoanalyse und Düsternis: Anarchisten wären demnach frühkindlich geschädigte Psychoten, die ihre privaten Probleme in abgrundtiefen Hass auf die Gesellschaft umwandeln und sich zur Rechtfertigung eine ›Philosophie des Nichts‹ schmiedeten. Sie seien ebensosehr zu bedauern wie zu bekämpfen.

Tragisch, niemand scheint sie lieb zu haben, die Anarchisten.

Sie ahnen schon, all dies ist Unsinn, und Sie ahnen richtig. Das macht die Sache allerdings nicht einfacher, denn eine korrekte Definition ist schon deshalb schwierig, weil Anarchismus keine einheitliche Bewegung ist, sondern eine vielfältige und damit auch widersprüchliche. Das liegt in ihrem Wesen, denn ihr Wesen ist Freiheit, und Freiheit ist nicht uniform.

So gibt es unter Anarchisten denn auch alle möglichen Überzeugungen und Strategien der Veränderung. Von Ökologen über Gewerkschafter, Pädagoge