Vorwort
Ich bin Krankenschwester.
An den ganz schlimmen Tagen schließe ich mich auf dem Stationsklo ein und sitze auf dem heruntergeklappten Deckel. Ich muss gar nicht, ich habe ohnehin seit Stunden nichts gegessen oder getrunken. Ich sitze nur da und starre auf meine weißen Stationsschuhe, an denen Spuren der letzten Stunden kleben: Urin, Kot, Desinfektionsmittel, Blut. Das Stationsklo hat kein Fenster, mit dem Licht springt automatisch eine Lüftung an. Mit dem Rauschen in den Ohren sitze ich da und denke an Rehe, die im Dunkeln bewegungsunfähig auf der Straße stehen und in den Lichtkegel eines Autos starren, das ihnen entgegenrast. Ich denke an sie, weil ich mich genauso fühle.
An den ganz schlimmen Tagen erstarre ich manchmal. Nur für einen Moment. Nur einmal kurz anhalten, am liebsten die ganze Welt, sich sortieren und dann wieder rausgehen. Versuchen, es irgendwie hinzubekommen. Diese Flut an Arbeit zu bewältigen. Dieses Zuviel an Arbeit und Zuwenig an helfenden Händen. Ich öffne Tür um Tür auf diesem endlosen Flur, hinter jeder ein anderer Mensch, eine andere Krankheit, ein anderes Bedürfnis. Und jedem versuche ich dann wenigstens ein bisschen zu helfen, das Nötigste zu schaffen, das Bestmögliche zu geben. Irgendwie. Priorisieren und den Kummer aushalten.
Den Kummer darüber, dass man die verängstigte ältere Frau allein in ihrem Zimmer lässt. Sie ruft nach ihrem längst verstorbenen Mann. Immer wieder. Sie ist desorientiert und verwirrt. Ich verlasse das Zimmer, weil ich weitermuss, aber das Bild bleibt – und auch das enge Herz –, und ich eile zu dem Mann, dessen leere Schmerzmittelpumpe schon seit zehn Minuten nervtötend piepst. Ich priorisiere, was eigentlich nicht zu priorisieren ist: Wer kann länger warten? Frau H., die sich nicht ohne Hilfe im Bett aufrichten kann und deren Mittagessen auf dem Nachtschrank längst kalt geworden ist, oder Herr M., dessen Kreislauf sich stetig verschlechtert? Hält Frau K. die Schmerzen noch etwas länger aus, während ich Herrn L. für einen dringenden Transport in die Diagnostik vorbereite und die Kollegin zwei Zimmer weiter um Hilfe ruft?
An den ganz schlimmen Tagen, wenn die Erstarrung sich gelöst hat, hetze ich nur noch. Ich scherze nicht, ich tröste nicht. An den schlimmen Tagen bin ich mein eigener Verräter. Denn dann bin ich nicht mehr die, die ich mal sein wollte. Dann bin ich eines der gestressten, abgehetzten Wesen, zu dem uns die Bedingungen im Krankenhaus so oft machen – immer auf dem Sprung, immer ein »Ich komme gleich« rufend. Dann bin ich kalt im Außen und frustriert im Inneren, dann funktioniere ich noch, aber ich fühle nicht mehr. Dann kann ich mich schon fast nicht mehr erinnern, wie sehr ich diesen Job mal wollte. Oder warum überhaupt.
Aber wann es war, das weiß ich noch.
Als ich das erste Mal ein Krankenhaus betrat, war ich kaum zehn Jahre alt. Bei meinem Großvater wurde eine Hüftprothese gewechselt, und wie es zu dieser Zeit noch üblich war, lag er vom Bauchnabel abwärts bis zu den Knien in schweren Gipsverbänden. Es sah zum Fürchten aus, aber es ging ihm den Umständen entsprechend gut. Das, was mein Leben nachhaltig beeinflussen sollte, ereignete sich allerdings bei seinem Zimmernachbarn. Der ältere Mann war bettlägerig, offensichtlich dement und wurde über diverse künstliche Zugänge versorgt. Nach allem, was ich heute weiß, wurde ihm Kochsalzlösung per Venenkatheter zugeführt, über einen sogenannten Perfusor – eine Spritzenpumpe – erhielt er Medikamente, sein Urin wurde mittels Blasenkatheter in einem Beutel aufgefangen. Heute würde ich es nicht als große Sache betrachten, eher als postoperative Standardversorgung. Damals aber erschien mir dieser blasse, hilflose Mensch von einem großen, rätselhaften Kabelgewirr umgeben. Völlig anders erging es dagegen der Krankenschwester, die irgendwann das Zimmer betrat. Souverän, zügig und doch ruhig machte sie sich daran, den Patienten zu versorgen.
Sie drehte eine Infusion ab, richtete eine neue und hängte sie an, sie zog ein Medikament auf und verabreichte es über die Spritzenpumpe, sie kontrollierte und