Inhaltsverzeichnis»Es gibt keine ›alternativlose Politik‹, wie uns jahrelang in Deutschland eingehämmert worden ist. Deshalb ist auch der Kampf nicht aussichtslos, und sei es nur, um Schlimmeres zu verhindern.«
Gespräch mit
Soziologe und Gründer des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (als Direktor: 1996 bis 2013). Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher – zuletzt: »Autoritäre Versuchungen« (2018)
Guten Morgen, Herr Heitmeyer, haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?
Den tatsächlichen Zustand der Welt kann man eigentlich gar nicht kennen, sondern bekanntlich nur das, was man »geliefert« bekommt – und was man wahrnehmen kann und will. Und selbst diese kleinen Ausschnitte müssen in Wut versetzen angesichts derstrukturellen Gewalt, wie es Johan Galtung ausgedrückt hat. Es sind dann nicht nur die Gewaltakteure, die es bekanntlich zuhauf gibt, sondern auch die gezielt geschaffenen Strukturen, die aus sich selbst heraus die Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens tagtäglich zertrümmern. Und dies sind nicht nur die materiellen Bedingungen, sondern auch immer mehr die kulturellen und informationellen Strukturen, die potenziell die Gewalt in sich tragen.
Nun wäre es anmaßend, mich als Gewissen der Welt aufzuspielen, über alles zu fluchen, was gerade passiert. Auch deshalb, weil ich das meiste, was an Scheußlichkeiten passiert, ja gar nicht begreife und nicht im Entferntesten kenne. Selbst bei meinen intensivsten Informationsanstrengungen, die ich jeden Tag unternehme.
Die innere Feinabstimmung zwischen der Notwendigkeit, informiert zu sein, um in der Zeit verankert zu bleiben, und der absoluten Überforderung ist heikel.
Man muss vorsichtig sein. Es gibt die präventive Wirkung des Nichtwissens, damit man nicht handlungsunfähig wird. Lähmung ist ja ein Element des Geschäftsmodells, um nicht tätig werden zu können.
Sie begannen in den 1980er-Jahren mit Ihren Forschungen zu gewaltbereitem Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Sie prägten den Begriff»gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« und entwickelten die Theorie sozialer Desintegration, um Gewalt zu erklären. Erinnern Sie sich an die Auslöser für Ihre Forschungen?
Einen Auslöser wie etwa einen Schalter, durch den plötzlich etwas angeknipst wird, gab es nicht. Es waren Alltagsbeobachtungen bei Jugendlichen mit ihrer Sprache und den dahintersteckenden Einstellungen – ohne dass sie rechtsextremen Gruppen angehörten.
Die erste empirische Untersuchung zu rechtsextremistischen Orientierungen von 1987 hat dann für viel öffentliche Aufmerksamkeit und Widerstand gesorgt. »Das ist alles Unsinn. Unsere Jugend hat ihre historische Lektion gelernt«, hieß es etwa. Für einen damals relativ jungen Wissenschaftler war das keine angenehme Situation. Ich war offensichtlich zu früh mit solchen Ergebnissen.
Oder die Institutionen waren noch mit zu vielen Mitarbeitern besetzt, die in Hitlers Regime auch Gutes gesehen hatten?
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