: Nancy Fraser, Rahel Jaeggi
: Kapitalismus Ein Gespräch über kritische Theorie
: Suhrkamp
: 9783518763520
: 1
: CHF 30.00
:
: Politik und Wirtschaft
: German
: 329
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Worum handelt es sich eigentlich bei dieser eigenartigen Gesellschaftsform, die wir als »Kapitalismus« bezeichnen? Nancy Fraser und Rahel Jaeggi stellen uns im so intensiven wie kontroversen Gespräch seine verschiedenen historischen Formen vor, die stets auf der Trennung von Ökonomie und Politik, Produktion und Reproduktion, menschlicher Gesellschaft und Natur beruhten. Dabei verwerfen sie althergebrachte Vorstellungen vom Wesen des Kapitalismus und wie dieser zu kritisieren sei. Stattdessen liefern sie präzise Diagnosen der gegenwärtigen Krisen und Aufstände und analysieren die Handlungsspielräume linker Politik.



Nancy Fraser, geboren 1947 in Baltimore, ist Henry A. and Louise Loeb Professor of Political and Social Science und Professorin für Philosophie an der New School for Social Research in New York.

291 Der Begriff des Kapitalismus


Was ist Kapitalismus? Das Problem des Einen und der Vielen


Jaeggi: Was ist Kapitalismus? Diese Frage verlangt nach einer bestimmten Wesensdefinition, einer Menge zentraler Merkmale, die kapitalistische Gesellschaften von nichtkapitalistischen unterscheiden. Ich denke, wir sind uns beide darin einig, dass der Kapitalismus gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische Dimensionen hat, die man so auffassen sollte, dass sie in einer bestimmten Art von miteinander verknüpften Beziehungen stehen. Ein Skeptiker könnte jedoch behaupten, dass sich die Kernbestandteile des Kapitalismus nicht so leicht angeben lassen. Haben wir schließlich nicht von der Debatte über die »Spielarten des Kapitalismus« gelernt, dass der Kapitalismus nicht überall auf der Welt gleich aussieht?1 Sollten wir daraus nicht schließen, dass kapitalistische Gesellschaften so unterschiedlich aussehen, dass es keinen gemeinsamen Nenner gibt? Wenn das der Fall wäre, haben wir ein echtes Problem. Wenn wir die Kernbestandteile nicht angeben können, die eine Gesellschaftsformation zu einer kapitalistischen machen, wie können wir dann noch von einer Krise des Kapitalismus sprechen? Denn ohne diese Kernbestandteile gäbe es keine Möglichkeit festzustellen, dass die gegenwärtige Krise wirklich eine Krise des Kapitalismus ist und nicht eine Krise von etwas anderem. Dasselbe gilt für unsere Ressourcen, mit denen wir den Kapitalismuskritisieren: Wie können wir behaupten, dass die Beispiele sozialen Leidens, die wir ansprechen wollen, tatsächlich mit demKapitalismus verknüpft sind, wenn wir nicht einmal einen hinreichend deutlichen und kohärenten Begriff des Kapitalismus haben, der uns gestattet, dessen Kernbestandteile zu bestimmen?

Fraser: Das ist ein wichtiger Punkt. Ich selbst gehe von der Annahme aus, dass die gegenwärtige Krise als eine Krise des Kapitalismus verstanden werdenkann. Aber diese Annahme muss bewiesen werden. Und der erste Schritt besteht gewissermaßen darin, eine Antwort auf den Kapitalismus-Skeptiker zu geben, indem man30zeigt, dass wir trotz seiner vielen Spielarten tatsächlich vom »Kapitalismus« als solchem sprechen können. Dazu müssen wir erklären, was wir unter Kapitalismus verstehen, und ihn anhand von bestimmten zentralen Merkmalen definieren, die über das breite Spektrum von Gesellschaften hinweg gelten, die wir als »kapitalistische« bezeichnen. Schließlich hat es keinen Sinn, vonSpielarten des Kapitalismus zu sprechen, wenn sie nicht bestimmte zugrunde liegende Merkmale teilen, aufgrund derer sie alle Spielarten desKapitalismus sind. Die Herausforderung für uns besteht also darin zu sagen, was eine Gesellschaft zu einer kapitalistischen macht, ohne die große Vielfalt von Hinsichten zu vereinheitlichen, in denen kapitalistische Gesellschaften sich potenziell und aktuell voneinander unterscheiden. Anschließend müssen wir die Beziehung zwischen den zentralen Merkmalen, die wir identifizieren, und den vielfältigen Formen klären, in denen sie über Raum und Zeit hinweg instanziiert sind.

Jaeggi: Dieses Problem weist mindestens zwei Dimensionen auf: eine vertikale und eine horizontale. Es gibt nicht nur die Frage nach den Spielarten des Kapitalismus mit Bezug auf die These, dass wir es mit gleichzeitigenKapitalismen im Plural zu tun haben, die zur selben Zeit in verschiedenen Gesellschaften koexistieren. Darüber hinaus haben wir es mit der historischen Entwicklung verschiedenerStadien des Kapitalismus zu tun. Es gibt gewaltige Unterschiede zwischen früheren Gestalten des Kapitalismus und dem heutigen Kapitalismus, und wir könnten die Frage stellen, ob es immer noch ein guter theoretischer Zug ist, all diese Dinge als »Kapitalismus« zu bezeichnen. Wie können wir die frühen Stadien des Industriekapitalismus mit dem modernen neoliberalen und globalen Kapitalismus gleichsetzen oder in Beziehung bringen? Ist es überhaupt angemessen, denselben Begriffsrahmen zu verwenden, um sowohl den Wettbewerbskapitalismus des 19. Jahrhunderts als auch den »Monopolkapitalismus« des 20. Jahrhunderts, den die frühe Frankfurter Schule als »Staatskapitalismus« bezeichnete, zu analysieren? Ich meine, unsere erste Aufgabe sollte in der Erfassung dessen bestehen, welche Kernbestandteile vorliegen müssen, damit eine Gesellschaftsformation als Instanziierung des Kapitalismus gelten kann.

Fraser: Der historische Punkt ist wichtig. Ich neige der Ansicht zu, dass der Kapitalismus wesentlich historisch ist, was immer er31sonst noch sein mag. Weit entfernt davon, mit einem Mal gegeben zu sein, entwickeln sich seine Eigenschaften über die Zeit hinweg. Wenn das stimmt, müssen wir sorgfältig vorgehen und jede vorgeschlagene Definitioncum grano salis und innerhalb der Entwicklungslinie des Kapitalismus als modifizierbar betrachten. Merkmale, die zu Beginn als zentral erscheinen, können später an Auffälligkeit einbüßen, während Eigenschaften, die zunächst als marginal oder gar abwesend erscheinen, später wesentliche Bedeutung erlangen könnten.

Wie du gerade gesagt hast, war der Wettbewerb zwischen Kapitalisten eine treibende Kraft für die Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert, aber im 20. Jahrhundert wurde er zumindest in führenden Branchen mehr und mehr durch das abgelöst, was gemeinhin als »Monopolkapitalismus« galt. Umgekehrt, während das Finanzkapital in der Ära des Fordismus nur eine unterstützende Rolle zu spielen schien, ist es im Neoliberalismus zu einer wichtigen Triebkraft geworden. Schließlich haben sich die Steuerungssysteme, in die der Kapitalismus eingebettet ist und die ihn in jedem Stadium strukturieren, im Lauf der letzten 300 Jahre immer wieder gewandelt, vom Merkantilismus zum Laissez-faire-Liberalismus über staatlich betriebenenDirigismus zur neoliberalen Globalisierung.

Diese Beispiele verweisen auf die wesentliche Geschichtlichkeit des Kapitalismus. Es geht hier nicht einfach um unterschiedliche »Spielarten des Kapitalismus«, die nebeneinander existieren könnten, sondern vielmehr umhistorische Momente, die in einer pfadabhängigen Folge miteinander verbunden sind. Innerhalb dieser Folge wird zwar jede gegebene Wandlung politisch angestoßen und lässt sich auf Kämpfe zwischen Verfechtern unterschiedlicher Projekte zurückführen. Aber diese Folge kann auch als gerichteter oder dialektischer Prozess rekonstruiert werden, in dem eine frühere Form auf Schwierigkeiten oder Grenzen stößt, die ihre Nachfolgerin überwindet oder umgeht, bis auch sie in einer Sackgasse landet und ihrerseits abgelöst wird.

Betrachtungen wie diese machen die Suche nach einer Kerndefinition komplizierter. Ich glaube nicht, dass sie eine solche Definition unmöglich machen, aber sie deuten darauf hin, dass wir mit Sorgfalt vorgehen sollten. Vor allem müssen wir es vermeiden, relativ flüchtige historische Formen mit der beständigeren Logik zu verquicken, die ihnen zugrunde liegt.

32Kernmerkmale des Kapitalismus: ein orthodoxer Anfang


Jaeggi: Wir könnten mit folgendem Vorschlag beginnen. Postulieren wir drei Grundmerkmale des Kapitalismus: (1) Privateigentum von Produktionsmitteln und die Klasseneinteilung zwischen Eigentümern und Produzenten; (2) die Institution eines freien Arbeitsmarkts; und (3) die Dynamik der Kapitalakkumulation, die auf einer Orientierung an der Expansion des Kapitals im Gegensatz zum Konsum basiert, im Verein mit einer Ausrichtung an der Profitgewinnung anstatt an der Befriedigung von Bedürfnissen.

Fraser: Das ist ganz nahe an Marx. Wenn wir so anfangen, kommen wir zu einer Auffassung des Kapitalismus, die zumindest auf den ersten Blick recht orthodox erscheinen wird. Aber wir können sie später weniger orthodox gestalten, indem wir zeigen, wie diese Kernmerkmale sich zu anderen Dingen verhalten und wie sie sich in realen historischen Umständen manifestieren.

Beginnen wir mit deinem...