: Tuvia Tenenbom
: Allein unter Briten Eine Entdeckungsreise
: Suhrkamp
: 9783518763360
: 1
: CHF 18.00
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 502
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Als Dramatiker und Gründer des Jewish Theater of New York wusste Tuvia Tenebom schon immer gutes Theater zu schätzen. Und wo kommen die besten Stücke zur Aufführung? In Großbritannien natürlich! Grund genug also, der Insel mal wieder einen Besuch abzustatten, zumal in einer Zeit, in der das große Brexit-Schauspiel über die Bühne geht. Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Oder schlicht absurdes Theater?, wollte er von den Briten wissen. Das war zumindest der Plan. Aber: Der Mensch denkt, und Gott lacht, wie es so schön heißt. Denn seine Reise - die ihn über viele Monate durch das Vereinigte Königreich führte und während der er in Winston Churchills Zimmer ein Nickerchen machte, mit Jeremy Corbyn Katz und Maus spielte, mit Nigel Farage verbotenen Tabak rauchte, ein Monster verspeiste und einem Geist nachstellte - gestaltete sich ganz anders als angenommen. Die meisten Inselbewohner wollten nämlich mit ihm nur bedingt über den Brexit sprechen, dafür redeten sie bereitwillig über andere Themen - Themen, die ihnen am Herzen lagen, wie der allgegenwärtige Antisemitismus. Die Gespräche, die Tuvia Tenenbom mit Lords und Ladies führte, mit Politprofis und Pub-Philosophen, Wohlhabenden und Habenichtsen, Geistesgrößen und Geistlichen, mit Gangstern und Beauty Queens, mit Antisemiten und Palästina-Romantikern u.v.m., zeichnen nicht nur ein erhellendes Stimmungsbild der englischen Gesellschaft, sondern zeigen auch, dass sie zutiefst gespalten ist und erbittert um ihre Identität und ihre Zukunft kämpft.



Tuvia Tenenbom, 1957 in Tel Aviv geboren, stammt aus einer deutschjüdisch-polnische Familie und lebt seit 1981 in New York. Er studierte u. a. englische Literatur, angewandte Theaterwissenschaften, Mathematik und Computerwissenschaften sowie rabbinische Studien und Islamwissenschaften. Er arbeitet als Journalist, Essayist und Dramatiker und schreibt für zahlreiche Zeitungen in den USA, Europa und Israel, darunter für DIE ZEIT. 1994 gründete er das Jewish Theater of New York. Zuletzt erschienen die Bestseller<em>Allein unter Deutschen</em> (2012),<em>Allein unter Juden</em> (2014),<em>Allein unter Amerikanern</em> (2016),<em>Allein unter Flüchtlingen</em> (2017) sowie<em>Allein unter Briten</em> (2020).

Die Katze und die Ratte


Es geschah einmal in der ältesten Kirche in Dublin, dass eine Katze eine Ratte jagte, wie es Katzen schon lange vor dem Bau der ersten Kirchen getan haben. Die Ratte, eine Spitzenläuferin von Geburt an, rannte um ihr Leben, direkt in eine der prächtigen Pfeifen der Kirchenorgel hinein. Die Katze wollte sich von der Ratte nicht austricksen lassen und folgte ihr mutig in die Pfeife. Der Rest, wie die Gläubigen sagen, ist Geschichte. Jahr um Jahr, vielleicht tausend Jahre lang, vielleicht weniger, lagen die tote Katze und die tote Ratte Seite an Seite in der Pfeife, konserviert von der sie umströmenden göttlichen Luft und den von den glückseligen Heiligen liebevoll gesungenen geistlichen Hymnen. Bis irgendwer, ein Ungläubiger gar, auf die Idee kam, die Orgelpfeifen zu reinigen. Warum, weiß heute kein Mensch mehr.

Und während die Musik Atem schöpfte, schlüpften die Katze und die Ratte aus der heiligen Orgel, und beide sahen aus wie vor tausend oder vielleicht mehr Jahren.

Es heißt, wer hier seit jenem Tag zu Jesus oder Maria beten will, trifft möglicherweise weder Mutter noch Sohn an, denn sie sind im Himmel, dafür aber die Katze und die Ratte.

Dieses Wunder will ich mit eigenen Augen sehen.

Ich steige in ein Flugzeug, schlafe ein und wache in Irland wieder auf.

So kommt man am schnellsten nach Irland: Irgendwo in einen Flieger steigen, einschlafen, und schwupps sind Sie da.

Kaum gelandet, steige ich aus und zünde mir neben einer rauchenden Dame eine Zigarette an.

Was bedeutet es, Irin zu sein?, frage ich sie.

»Wir sind freundliche Menschen.«

Und die Briten, sind die auch freundlich?

»Die Briten sind zu schwermütig, zu ernst. Wir Iren sind entspannt, nicht wie die Briten.«

Mögen die Iren die Briten?

»Die eine Hälfte ja, die andere nicht.«

Ich bin aus Österreich. Mögen Sie die Österreicher?

»Die kenne ich nicht.«

LautNew York Times, die einen Bericht der Weltgesundheitsorganisation zitiert, »werden die Iren im Komasaufen allein von den Österreichern übertroffen«. Warum also nicht behaupten, ich wäre Österreicher, Trinker im Geiste?

Wenn ich fremde Menschen interviewe, stelle ich mich oft als deutscher Journalist namens Tobias vor. Meiner Erfahrung nach sind die Leute ehrlicher, wenn sie mich für einen Deutschen halten. Manchmal, wenn die Umstände es verlangen, sprudeln andere Nationalitäten aus meinem Mund.

Jetzt nehme ich ein Taxi, fahre zum Brooks Hotel, gebe meine Sachen ab und mache mich auf den Weg in die nahe gelegene Fade Street, wo, wie mir ein Hotelgast berichtet, sich die berühmten Dubliner Trunkenbolde versammeln.

Aber ich finde keine.

Wo sind die besoffenen Iren?

»Kommen Sie Freitagnacht wieder«, rät mir ein junger Mann. »Wenn Sie spät genug kommen, werden Sie sie sehen.«

Gut, das mache ich.

Die Sonne scheint, das Wetter ist höchst angenehm, und ich begebe mich zur Christ Church Cathedral, Ruhestätte der Katze und der Ratte.

In der Kirche betet gerade niemand. Es ist die Stunde der Touristen, und die müssen Eintritt zahlen.

Gott steckt anscheinend in finanziellen Schwierigkeiten.

Nun gut.

Ein Schild weist nach unten in die Krypta.

Hier liegen die Katze und die Ratte, von manchen Tom und Jerry genannt, in all ihrer mumifizierten Pracht.

Oh, Herr im Himmel, welch grässlicher Anblick.

Warum wollte ich mir unbedingt eine tote Ratte ansehen?

Ich Dussel.

Nichts wie weg.

Ich wandere durch die Straßen von Dublin. Die Schilder sind zweisprachig, auf Gälisch und Englisch. Wie viele Iren sprechen Gälisch?, frage ich einige irische Passanten. Die meisten antworten, sie selber nicht, schätzen aber, zwischen 3,9 und zehn Prozent der Iren würden Gälisch sprechen.

Irgendwann meldet sich mein Magen, und ich gehe mittagessen. Neben mir sitzt ein gut gekleideter Herr namens Michael Fitzgerald, auch Mike genannt, wie viele Iren früher Katholik, jetzt nicht mehr.

Ich bitte Mike, mir sein Land zu beschreiben. Gibt es etwas, das allen Iren gemein ist?, will ich wissen.

Ja, gibt es.

»Irland«, erzählt mir Mike, »ist das antiisraelischste, antijüdischste Land in Europa – auch wenn wir uns bloß als antizionistisch bezeichnen.«

Wie bitte?

Diese Aussage sollte mich eigentlich nicht weiter verwundern, meint er. »Während des Zweiten Weltkriegs haben wir gerade einmal fünfundsechzig Juden ins Land gelassen. Der damalige Taoiseach (Premierminister), Éamon de Valera, hat dem deutschen Volk zum Tod von Adolf Hitler sogar kondoliert.«

Haben euch nicht eher die Engländer als die Juden Schlimmes angetan?

Nun ja. Mike räumt ein, dass die Engländer die Iren jahrhundertelang umgebracht, die irische Kultur beinahe ausgemerzt und aus dem Gälischen eine Sprache gemacht haben, die fast nur noch von Toten gesprochen wird. Und nicht nur das. Queen Elizabeth I., fährt Mike fort, habe vor langer Zeit »schottische Protestanten nach Nordirland geschickt und ihnen Land zugeteilt, auf Kosten der katholischen Bevölkerung – die von ihrem Grund und Boden vertrieben wurde. Das hat die Kluft zwischen dem Norden und dem Süden von Irland aufgerissen, die bis heute besteht.«

Habe ich das richtig verstanden: Die Engländer bringen die Iren um, und deswegen hassen die Iren die Israelis-Schrägstrich-Juden?

»Ja. Hier in Irland geben wir nicht viel auf die Realität, wir lieben Mythen.«

Was meinen Sie damit?

»Wir glauben, dass zu Anbeginn der Zeiten hier Leprechauns gelebt haben, Kobolde. Und dann sind irgendwann wir aufgetaucht.«

Das ist großartig! Andere Nationen wurden von Leuten gegründet, die irgendwo einfielen, weit und breit alle umbrachten, den Boden mit dem Blut der Einheimischen tränkten und sich das Land unter den Nagel rissen. Nicht so die Iren. Die haben niemanden umgebracht und keinem das Land geklaut. Genial.

Um das Gehörte runterzuspülen, gehe ich in einen Pub. Ich glaube, ich nehme ein Guinness. Und ich hoffe, dass Mikes Bemerkungen über Juden nur seiner Phantasie entspringen. Das werde ich natürlich überprüfen, aber nicht heute.

Heute will ich trinken. Guinness.

Die Kellnerin ist ein nettes Mädchen mit einem ganz unirischen Akzent.

Woher kommen Sie?, frage ich.

»Rumänien.«

So ein Zufall! Meine Mutter ist ebenfalls Rumänin.

»Sprechen Sie Rumänisch?«

Leider nein, meine Mutter hat es mir nie beigebracht.

»Das macht nichts«, versucht sie mich zu trösten. »Das hat man im Blut.«

Im Blut? Nun gut.

Ich muss gestehen: Ich bin kein Biertrinker. Das einzige Bier, das mir schmeckt, ist belgisches Chimay, vor allem Chimay Blue. Guinness sieht aus wie Chimay, ist aber keins. Anderes Blut, würde die rumänische Kellnerin sagen. Trotzdem gebe ich mein Bestes. Ein Schluck, noch ein Schluck, noch ein Schluck, und dann noch einer. Wenn ich so weitermache, wird vielleicht noch ein Ire aus mir und St. Patrick mein Schutzheiliger.

Am nächsten Tag mische ich mich unter die Iren und rede mit allen, die mir ihre Zeit schenken. Und ich höre Geschichten. Viele Geschichten.

Vor ungefähr zwei Monaten, so erzählt mir ein netter irischer Bursche, habe eine irische Senatorin namens Frances Black einen Gesetzentwurf eingebracht, nach dem es »eine Straftat (ist), Waren oder Dienstleistungen zu importieren oder verkaufen, die aus besetzten Gebieten stammen«, welche bei Verurteilung »(a) durch einen Richter mit einer Geldbuße von bis zu 5000 Euro oder einer Gefängnisstrafe von bis zu zwölf Monaten oder beidem« oder »(b) bei Verurteilung durch ein Geschworenengericht mit einer Geldbuße von bis zu 250 000 Euro oder einer Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren oder beidem« geahndet werden soll.

Um es klarzustellen, es geht bei diesem Gesetzentwurf nicht um Russland, das Teile der Ukraine besetzt hält und gewohnheitsmäßig Moslems in Tschetschenien abschlachtet. Auch nicht um China, ein Land, das mit Vorliebe alles besetzt, wonach ihm gerade ist, und die muslimische...