So stelle ich es mir vor:
Ein spindeldürrer Mathematiker mittleren Alters mit überragendem Verstand, wundem Herzen und schlechter Haut wird in der beißenden Kälte eines deutschen Januars in einer Kutsche hin- und hergeworfen. Seit seiner Jugend hinterlässt er in Familienbüchern und Freundschaftsalben sein persönliches Motto, das einem Vers des antiken DichtersPersius entlehnt ist: »O die Sorgen der Welt, wie viel ist in allem doch eitel!« Der Mann hat Tragödien überstanden, die die meisten Menschen zerstört hätten. Und nun rollt er in schneller Fahrt durch die eisige, alabasterweiße Landschaft, in der verzweifeltenHoffnung, eine weitere Katastrophe verhindern zu können: Fünf Tage nach Weihnachten und zwei Tage nach seinem vierundvierzigsten Geburtstag im Jahr1615 schrieb ihm seine Schwester, dass ihreMutter wegen Hexerei vor Gericht stehe – eine Entwicklung, für die er sich selbst die Schuld gibt.
Er hat das weltweit erste Science-Fiction-Werk geschrieben, eine kluge Allegorie, die das umstrittene kopernikanische Modell des Universums propagiert, die Auswirkungen derGravitation beschreibt – Jahrzehnte bevorNewton deren Gesetzmäßigkeiten formulierte –, sich die Sprachsynthese Jahrhunderte vor dem ersten Computer vorstellt und die Raumfahrt mehr als dreihundert Jahre vor der ersten Mondlandung voraussagt. Das Buch, das eigentlich dazu dienen sollte, demAberglauben mit konkreter Wissenschaft entgegenzutreten, indem es die Leserschaft durch Symbole und Metaphern zum kritischen Denken anregt, hat stattdessen dazu geführt, dass seine alte, ungebildeteMutter dem Tod ins Auge sehen muss.
Wir schreiben das Jahr1617, und sein Name ist JohannesKepler – vielleicht der glückloseste Mann der Welt, vielleicht der größte Wissenschaftler aller Zeiten. Er lebt in einer Zeit, in der Gott mächtiger ist als die Natur und der Teufel den Menschen realer und vertrauter als das Konzept der Schwerkraft. Die meisten seiner Zeitgenossen glauben, dass sich dieSonne alle vierundzwanzig Stunden ein Mal um die Erde dreht, von einem allmächtigen Schöpfer auf eine perfekte Kreisbahn geschickt. Die wenigen, die es wagen, die abtrünnige Idee zu vertreten, die Erde drehe sich um ihre eigene Achse und zugleich um die Sonne, glauben, sie bewege sich auf einer idealen kreisförmigen Umlaufbahn.Kepler sollte beide Überzeugungen widerlegen, das WortOrbit prägen und den Marmor schlagen, aus dem die klassische Physik gemeißelt werden würde. Er würde als erster Astronom eine wissenschaftliche Methode zur Vorhersage von Eklipsen entwickeln und als Erster die mathematische Astronomie mit der materiellen Realität in Einklang bringen, indem er bewies, dass physikalische Kräfte die Himmelskörper in berechenbaren Ellipsen kreisen lassen – wodurch er zum ersten Astrophysiker überhaupt aufsteigen sollte. All das würde er vollbringen, während er zugleichHoroskope erstellte und glaubte, neue Tierarten würden spontan entstehen, indem sie aus Sümpfen emporsteigen und aus Baumrinden sickern. Überdies war er der Meinung, die Erde selbst sei ein beseelter Körper, der eine Verdauung habe, erkranken könne und wie ein lebendiger Organismus ein- und ausatme. Drei Jahrhunderte später würde die Meeresbiologin und Schriftstellerin RachelCarson ihre ganz eigene Version dieses organischen Weltbildes entwerfen, auf der Basis rein wissenschaftlicher Fakten und frei von Mystizismus, und so das WortÖkologie zu einem alltäglichen Begriff machen.
Keplers Leben zeigt, dass die Wissenschaft für die materielle Welt das bewirkt, wasPlutarchs Gedankenexperiment, das als »Schiff desTheseus« bekannt ist, für das Ich tut. In dieser altgriechischen Allegorie segelt Theseus, der legendäre König von Athen, im Triumph nach Hause zurück, nachdem er den mythischen Minotaurus auf Kreta getötet hat. Tausend Jahre lang wird sein Schiff im Hafen von Athen zum Gedenken an diese Heldentat aufbewahrt und jedes Jahr nach Kreta gesegelt, um die siegreiche Reise nachzustellen. Als der Zahn der Zeit allmählich an dem Schiff nagt, werden nach und nach die maroden Teile ersetzt – neue Planken, neue Ruder, neue Segel –, bis irgendwann kein einziges Originalteil mehr vorhanden ist. Ist es dann, so fragtPlutarch, noch dasselbeSchiff? Es gibt kein statisches, fest umrissenes Ich. Im Laufe unseres Lebens verändern sich unsere Gewohnheiten, Überzeugungen und Ideen bis zur Unkenntlichkeit. Unser physisches und soziales Umfeld wandelt sich. Fast alle unsere Zellen werden ersetzt. Dennoch bleiben wir – für uns selbst –, »wer« »wir« »sind«.
Das Gleiche gilt für das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Welt: Nach und nach reformieren neue Entdeckungen unser Verständnis der Realität. Diese Realität offenbart sich uns nur in Fragmenten. Je mehr Fragmente wir wahrnehmen und analysieren, desto lebensechter wird das Mosaik, das wir aus ihnen legen. Dennoch bleibt es ein Mosaik, eine Repräsentation – unvollkommen und unvollständig, so schön sie auch sein mag, und ewiger Wandlung unterworfen. Drei Jahrhunderte nachKepler würde LordKelvin im Jahr1900 das Podium der British Association for the Advancement of Science erklimmen und erklären: »In der