: Christiane Zehl Romero
: Anna Seghers Eine Biographie. 1900-1947
: Aufbau Verlag
: 9783841226266
: 1
: CHF 9.60
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: Biographien, Autobiographien
: German
: 560
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Aus Netty Reiling wird Anna Seghers. Was zählt, sei das Werk, nicht die Person. Damit wehrte Anna Seghers zeit ihres Lebens Fragen nach Details ihrer Biographie ab. Viele Spuren hat sie bewusst verwischt, andere legte sie mit Bedacht. Sie, die bedeutendste deutsche Erzählerin ihres Jahrhunderts, war wohl auch eine der verschwiegensten. Anhand von neuen, zuvor nicht erschlossenen Quellen entwirft Christiane Zehl Romero ein völlig neues Bild von der Schriftstellerin, wobei ein Schlüssel in deren Kindheit und Jugendzeit liegt. In den Jahren der Verwandlung von Netty Reiling in Anna Seghers erlebte die junge Frau eine Intensität des geistigen Austausches, eine Radikalität der Fragestellungen und eine Vielfalt der Ideen, von denen die dogmatische Enge und die Scheindiskussionen späterer Jahre besonders abstechen mussten. »Christiane Zehl Romero setzt thematische Akzente, um Zusammenhänge zwischen Leben und Schreiben und werkimmanente Konstanten aufzuzeigen.« Süddeutsche Zeitung

Christiane Zehl Romero ist in Wien geboren und studierte an der Universität Wien Germanistik und Anglistik. Weitere Studien in Vergleichender Literaturwissenschaft in Paris (Sorbonne) und in den USA (Yale University). Sie lebt in Winchester in der Nähe von Boston und ist„Professor of German and International Literary and Cultural Studies“ und„Goldthwaite Professor of Rhetoric Emerita“ der Tufts Universität, Medford, Massachusetts. Zahlreiche Aufsätze zur deutschen und vergleichenden Literatur und zum Film sowie Biographienüber Simone de Beauvoir und Anna Seghers, auch als Herausgeberin tätig, u. a. die Briefe von Anna Seghers in 2 Bänden (2008 und 2010) sowie„Anna Seghers. The Challenge of History“ (2020).

Zweites Kapitel
Heimat


»Bei dem bloßen Anblick des weichen, hügeligen Landes gedieh die Lebensfreude und Heiterkeit«

Anna Seghers

Im Jahre 1900 gehörte die Stadt Mainz zum Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Es wurde von dem bereits erwähnten Großherzog Ernst Ludwig (1886–1937), einem guten Kunden der Reilings, der allgemein als Kunstfreund galt, von Darmstadt aus »regiert«, war aber natürlich Teil des Deutschen Reiches. Die Lage der Stadt auf der linken Seite des Rheins bedeutete, daß sie im Lauf ihrer vielfältigen Geschichte auch immer wieder unter französische Besatzung und Herrschaft kam. Für die Juden der Stadt hieß das, daß sie im Gefolge der Französischen Revolution früher als anderswo in Deutschland gesetzliche Gleichstellung erhielten, wenn Napoleon durch sein Moralitätspatent auch Einschränkungen machte. Noch viel länger war Mainz Bischofsresidenz. Der Dom und die katholische Religion bestimmten das Bild und die Atmosphäre der Stadt, zu der auch eine sehr ausgeprägte Karnevalstradition gehörte, die Seghers jedoch nie erwähnte, während der Dom einen tiefen, bleibenden Eindruck hinterließ. In der Zeit ihrer Kindheit errichteten die zwei bedeutendsten religiösen Minderheiten von Mainz zwar architektonische Gegenstücke, 1903 den Kuppelbau der evangelischen Christuskirche, Höhepunkt des »sogenannten ›Boulevards‹ der Kaiserstraße«, auf dem die Reilings wohnten, und 1912 die große Hauptsynagoge der liberalen jüdischen Gemeinde, ebenfalls – und in bewußtem Gegensatz zum üblichen maurischen oder syrisch-arabischen Stil – einen imposanten Kuppelbau. Einem Mainzer Historiker zufolge legten diese auf Repräsentanz bedachten Gotteshäuser zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts »Zeugnis eines toleranten Stadtbildes« ab,1 doch unterstrichen sie wohl auch die massive, uralte Präsenz des Domes in den Vorstellungen eines dafür empfänglichen jungen Menschen. Mainz hatte um 1900 3104 jüdische Bürger und Berichten zufolge eine blühende »Gemeinde, der allgemein Respekt gezollt wurde«2, Juden machten aber nur 3,7% der Gesamtbevölkerung aus, die überwiegend katholisch war. Es war eine relativ bedeutende, doch überschaubare Kleinstadt und hatte auf Grund seiner Lage direkt am Rhein und seiner Geschichte verschiedenste Einflüsse und Traditionen in sich aufgenommen, was Seghers stets positiv bemerkte. Sie lobte auch, Thomas Mann zitierend, »die sonderbare Wirkung kleiner historischer Städte in Deutschland auf die dort erzogenen Kinder«3, allerdings rückblickend.

Zeitlebens fühlte sich Seghers ihrer Vaterstadt und deren Umgebung, die sie mit 25 Jahren verließ, tief verbunden, aus der zum Teil erzwungenen Distanz späterer Jahre intensiver, aber auch auf widersprüchlichere Weise als in der Jugend. In ihrem durch Flucht und Exil geprägten Leben lieferte ihr der Raum, aus dem sie stammte, wie keine andere Landschaft Deutschlands die Bilder für das Thema Heimat, das für sie besonders wichtig wurde. Zunächst erfuhr das Kind Stadt und Landschaft als selbstverständlichen Lebensraum, als Heimat im ursprünglichen, unreflektierten Sinne. Einer ehemaligen Mitschülerin schreibt Seghers später: »Mit unserer Schulzeit und mit unserer Heimatstadt geht es mir wie Dir. Wie es immer ist, wenn man unbeschwert froh ist, man merkt gar nicht, wie unbeschwert froh man ist.«4 Es ist ein Gedanke, der im Alter oft wiederkehrt. Sie weiß gleichzeitig, daß sie sich als Jugendliche voll Erlebnisdrang auch wegsehnte. Am extremsten drückte sie diesen Wunsch aus, als sie einem Gesprächspartner im Alter gestand: »Ich wollte überhaupt nur studieren, weil ich fürchterliche Angst hatte, in dem Nest Mainz hängenzubleiben.«5 Sie meinte damit jedoch wohl mehr den kleinstädtischen Lebensstil mit seinen Beschränkungen, besonders für eine Frau, als die Gegend im allgemeinen. Die Wahl ihres Studienortes Heidelberg trug Netty jedenfalls keineswegs weit weg von daheim, und nach dem Studium kehrte